Nur 15 Sekunden
bleiben … zu gefährlich. «Wollen wir nicht doch gleich etwas essen gehen?»
«Wie du willst. Ich muss mich nur noch umziehen.»
Ich wartete im Wohnzimmer und sah mir die Familienfotos auf dem Kaminsims an, während er sich hinten im Schlafzimmer frische Sachen anzog. Rich bewohnte das Erdgeschoss, eine Wohnung mit zwei Schlafräumen. Das kleinere Zimmer gehörte Clara, wenn sie am Wochenende bei ihrem Vater war.
Lucy und Clara sahen einander sehr ähnlich: zierlich und dunkel, der südländische Typ. Beide hatten langes, dunkles Haar, das sie in der Mitte gescheitelt und hinters Ohr geschoben trugen. Clara war inzwischen fünf, sie musste also zwei gewesen sein, als ihre Eltern sich getrennt hatten. Ich fragtemich, ob es für ein Kind aus einer gescheiterten Ehe tatsächlich besser war, sich nicht an die Zeit zu erinnern, als die Eltern noch zusammen waren. Vielleicht war es leichter, diese Zeit ganz bewusst erlebt zu haben und zu wissen, dass diese beiden Menschen einander einmal geliebt hatten. Claras Erinnerungen würden sich aus einzelnen Bildern zusammensetzen, aus festgehaltenen Augenblicken, an die sie sich eigentlich nicht erinnern konnte. Bens Kopf hingegen war voll von eigenen Erinnerungen an einen Vater, den er sehr gut gekannt hatte. Erinnerungen in Wort und Bild. Was war besser? Fast beneidete ich Rich, weil seine Tochter noch zu klein gewesen war, um die große Katastrophe der Familie bewusst zu erleben. Ich machte mir Sorgen, dass Ben den Verlust seines Vaters vermutlich nie ganz verwinden, dass diese einschneidende Erfahrung sein weiteres Leben bestimmen würde.
Wir gingen gleich in der Nähe thailändisch essen, in einem hübschen, schummrigen Lokal, das mit überdimensionalen Laternen, langen Bambushalmen und Feuerlilien aus zartem Buntpapier dekoriert war. Ben hatte sich immer geweigert, mit mir dorthin zu gehen. Er behauptete, es sei ihm zu «schickimicki». Doch ich wusste, dass er im Grunde eher das scharfe Essen scheute, das er noch nie probiert hatte.
Für Rich und mich war es das dritte gemeinsame Abendessen, und wie jedes Mal hatte ich das Gefühl, als täten wir etwas Verbotenes. Als würden wir uns Zeit stehlen, die uns eigentlich nicht zustand. Diesmal war es insofern ein bisschen anders, als dass keiner von uns zu seinem Kind nach Hause musste, es keinen Babysitter abzulösen beziehungsweise einen ansatzweise unabhängigen Jugendlichen zu überwachen gab. Ben war mit Henry und dessen Vater beim Yankees-Spiel, er würde dort übernachten und erst amnächsten Tag wieder nach Hause kommen. Und Clara verbrachte das Wochenende bei ihrer Mutter. Diese ungewohnte Freiheit erhöhte auch irgendwie die Spannung. Dieser Mann gefiel mir einfach viel zu gut. Aber war ich schon bereit? Würde ich jemals bereit sein?
Unser Gespräch plätscherte dahin, wie das bei frühen Dates eben ist, wir füllten die eine oder andere Lücke in der Lebensgeschichte des anderen, die wir inzwischen schon ein wenig kannten. Ich wusste, dass Rich auf einer Ranch in Montana aufgewachsen war, zur Enttäuschung seines Vaters und großen Freude seiner Mutter schon früh künstlerisches Talent gezeigt hatte und schließlich zum Entsetzen beider von zu Hause fortgegangen war, um am Pratt Institute in New York City Malerei zu studieren. Ich wusste auch, dass er seither zweimal im Jahr zurück nach Hause fuhr, an Weihnachten und für eine Woche im Sommer. Jetzt erfuhr ich, dass er trotz aller Distanz, die er inzwischen zu seiner Herkunft aufgebaut hatte, noch einer Leidenschaft seiner Kindheit nachging: Jeden Mittwoch arbeitete er nachmittags und abends als Reitlehrer im Prospect Park. Und es war sicher auch kein Zufall, dass er in eine umgebaute Scheune gezogen war.
«Hast du je darüber nachgedacht, wieder nach Montana zu ziehen?», fragte ich.
«Nicht mehr, seit es Clara gibt.»
«Natürlich nicht.»
«Möchtest du mal mit zum Reiten kommen? Im Prospect Park gibt es Wege, da kann man glatt vergessen, dass man in der Stadt ist.»
«Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.»
Seine Augen blitzten auf, er grinste, dann sagte er: «Dabei liegt auf dessen Rücken doch das Glück der Erde.»
Ich musste lächeln. Er gefiel mir einfach – viel zu sehr.
Nach dem Abendessen wollte ich mich vor dem Restaurant in der Smith Street von ihm verabschieden, doch Rich bestand darauf, mich nach Hause zu bringen, obwohl das beim besten Willen nicht nötig war. Es war Freitag, das ganze Viertel brummte, und für manche
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