Nur dein Leben
in ihrer Handtasche auf. Es zeigte einen drei Jahre alten Jungen in Latzhosen, mit weichen blonden Haaren, die so zerstrubbelt waren, als sei er gerade aus einem Trockner gekrabbelt. Schelmisch grinste er in die Kamera und man sah, dass zwei Vorderzähne fehlten – er hatte sie sich ausgeschlagen, als er von einer Schaukel gefallen war.
Noch lange nach Halleys Tod wollte – oder konnte – John nicht trauern oder darüber reden und hatte sich stattdessen in seine Arbeit, sein Schachspiel und seine Fotografie vergraben. Stundenlang war er bei jedem Wetter mit seiner Kamera losgezogen und hatte alles fotografiert, was ihm vor die Linse kam, ziellos und wie besessen.
Naomi hatte versucht, wieder ins Arbeitsleben einzusteigen. Über einen Freund in Los Angeles hatte sie eine gute Stelle in einer PR -Agentur erhalten, aber schon nach ein paar Wochen wieder gekündigt, weil sie sich einfach nicht konzentrieren konnte. Ohne Halley erschien ihr alles andere hohl und sinnlos.
Schließlich hatten sie beide eine Therapie begonnen und erst vor wenigen Monaten beendet.
John fragte: »Wie geht es dir, jetzt, wo wir …«
»Hier sind?«
»Ja. Jetzt, wo wir tatsächlich hier sind.«
Ein Tablett auf der Kommode, auf dem eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser standen, rutschte einige Zentimeter über die Oberfläche.
»Alles rückt plötzlich so nah. Ich bin furchtbar nervös. Und du?«
Sanft streichelte er ihre Haare. »Liebling, wenn du an irgendeinem Punkt nicht mehr weitermachen willst …«
Sie hatten einen astronomisch hohen Kredit aufgenommen, um diese Unternehmung zu finanzieren, und sich zusätzlich hundertfünfzigtausend Dollar borgen müssen. Naomis Mutter und ihre Schwester Harriet in England hatten darauf bestanden, ihnen die Summe zu leihen. Das Geld, insgesamt vierhunderttausend Dollar, war bereits überwiesen worden und nicht rückzahlbar.
»Wir haben unsere Entscheidung getroffen«, sagte Naomi. »Wir müssen weitermachen. Wir müssen aber nicht …«
Sie wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, und eine Stimme sagte: »Zimmerservice!«
Die Tür ging auf und ein zierliches, sympathisch aussehendes philippinisches Zimmermädchen in einem weißen Overall und Turnschuhen lächelte sie an. »Willkommen an Bord, Dr. und Mrs. Klaesson. Ich bin Leah, Ihre Kabinenstewardess auf dieser Reise. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Uns ist beiden ziemlich übel«, sagte John. »Gibt es irgendetwas, was meine Frau nehmen darf?«
»Ja, natürlich – ich besorge Ihnen sofort etwas.«
»Ach, wirklich?«, fragte er überrascht. »Ich dachte, sie dürfe keine Medikamente …«
Das Zimmermädchen schloss die Tür und kehrte weniger als eine Minute später mit zwei Paar Armbändern und zwei winzigen Klebepunkten zurück. Sie zog die Ärmel hoch und zeigte ihnen erst, dass sie ähnliche Bänder trug, dann den Klebepunkt hinter dem Ohr. »Tragen Sie diese, und Ihnen wird nicht schlecht«, sagte sie und erklärte ihnen die richtige Anwendung.
Naomi war sich nicht sicher, ob es vielleicht nur ein Placebo-Effekt war, aber schon wenige Minuten, nachdem das Zimmermädchen gegangen war, fühlte sie sich ein wenig besser. Jedenfalls gut genug, um mit dem Auspacken fortzufahren. Sie stand auf und starrte eine Weile lang aus einem der beiden Zwillingsbullaugen auf den dunkler werdenden Ozean. Dann drehte sie sich weg, weil ihre Übelkeit beim Anblick der Wellen sofort zurückkehrte.
John wandte sich wieder seinem Laptop zu. Wenn sie zusammen verreisten, galt die Regel: Naomi packte aus und John blieb ihr aus den Füßen. Er war der schlechteste Kofferpacker der Welt und ein noch schlechterer Auspacker. Mit wachsender Verzweiflung starrte Naomi auf den Inhalt seines Koffers, der nach seiner Suche nach einem Adapter überall verstreut war. Einige seiner Kleider lagen auf der Tagesdecke, andere hatte er über einen Stuhl geworfen, wieder andere lagen auf dem Boden. John fixierte seinen Bildschirm und war sich des Chaos gar nicht bewusst, das er angerichtet hatte.
Naomi grinste, hob einen Knäuel Krawatten auf und schüttelte den Kopf. Zwecklos, sich aufzuregen.
John fummelte an seinen neuen Armbändern herum und berührte den Klebepunkt hinter seinem Ohr. Bisher hatte sich seine Übelkeit noch nicht merklich gebessert. Er versuchte, das Stampfen des Schiffes zu ignorieren und konzentrierte sich auf seine Schachpartie mit einem Mann namens Gus Santiago, den er in einem Schach-Chatroom getroffen
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