Nur dein Leben
Schiff und Dettore musste sich an der Kabinenwand abstützen.
»Ich rate Ihnen Folgendes. Ruhen Sie sich heute Abend ein bisschen aus und essen Sie in Ihrer Kabine.« Er hielt ihnen den Umschlag hin. »Darin sind Formulare zu Ihrer medizinischen Vorgeschichte, die Sie bitte ausfüllen, Naomi, und Sie müssen mir eine Einwilligung zur Behandlung unterschreiben. In Kürze wird Ihnen die Krankenschwester Blut abnehmen. Wir haben die Proben, die Sie uns geschickt haben, bereits ausgewertet und das Genom von Ihnen beiden bereits vollständig kartiert. Wir sehen es uns morgen früh gemeinsam an. Kommen Sie bitte um zehn in mein Büro. Kann ich bis dahin noch irgendetwas für Sie tun?«
Naomi hatte eine lange Liste von Fragen zusammengestellt, aber in diesem Moment, wo sich ihre gesamten Eingeweide durch die Übelkeit zusammenkrampften, galt ihr einziger Gedanke der Hoffnung, sich nicht übergeben zu müssen.
Dettore zog einen kleinen Behälter aus der Tasche und reichte ihn Naomi. »Bitte nehmen Sie dieses Medikament zweimal täglich mit dem Essen ein. Wir wissen, dass es dazu beiträgt, den Embryo gleich zu Beginn der Empfängnis epigenetisch zu modifizieren.« Er lächelte und fuhr dann fort: »Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, was Sie gerne besprechen würden, rufen Sie mich einfach unter meiner Durchwahl an. Ansonsten sehen wir uns morgen früh. Gute Nacht!«
Dann war er fort.
Naomi sah John an. »Hat er tolle Gene oder einen tollen Schönheitschirurgen und einen tollen Zahnarzt?«
»Wie findest du ihn?«, fragte John. Dann sah er sie entsetzt an. Ihr Gesicht war aschfahl, und der Schweiß lief ihr über die Wangen.
Sie ließ den Behälter fallen und rannte ins Badezimmer.
4
Naomis Tagebuch
Kann kaum schreiben. Habe mich schon zweimal übergeben. Es ist drei Uhr nachts. Mein Arm tut mir weh nach der dritten Blutabnahme. Wozu brauchen die so viel Blut? Drei Proben. Wozu in aller Welt braucht die Krankenschwester drei Röhrchen voll? Sie war allerdings sehr nett und hat sich entschuldigt. Alle scheinen hier nett zu sein. John hat ein üppiges Abendessen bestellt und es dann nicht angerührt. Schon von dem Geruch wurde ihm übel – mir auch!
Die Kabine vibriert durch die laufenden Schiffsmotoren. Die Schwester – Yvonne –, eine sympathische Afroamerikanerin, hat uns erklärt, bei ruhiger See würde man das Schiff einfach treiben lassen oder nachts den Anker auswerfen, aber bei Seegang, so wie jetzt, liege es ruhiger im Wasser, wenn man die Maschinen laufen lässt und etwas Fahrt macht.
Habe Mum vorhin angerufen – sehr kurzes Gespräch (bei 9 $ pro Minute!) –, um ihr Bescheid zu sagen, dass wir angekommen sind. Dann habe ich Harriet angerufen. Sie freut sich sehr für uns. Keine Ahnung, wann wir den beiden die 150 000 $ zurückzahlen können, die sie uns geliehen haben. John hat Aussicht auf ein, zwei Forschungspreise und arbeitet an einem Buchprojekt für MIT Press – obwohl deren Vorschüsse nicht gerade üppig sind.
Fühle mich wie ein Flüchtling – und vielleicht sind wir das auch. Wäge immer wieder das Für und Wider gegeneinander ab. Versuche, den Punkt zu finden, an dem sich medizinische Ethik, die akzeptablen Grenzen der Wissenschaft und gesunder Menschenverstand begegnen. Das alles ist sehr schwer definierbar.
John ist wach, kann genauso wenig schlafen wie ich. Hatten vorhin eine lange Unterhaltung über das, was wir im Begriff sind zu tun und wie wir uns dabei fühlen. Wir hecheln immer wieder die gleichen Fragen durch. Natürlich stellen wir uns auch vor, wie es uns ginge, wenn es nicht funktioniert – das Risiko beträgt schließlich fünfzig Prozent. Trotzdem sind wir beide weiterhin optimistisch. Dennoch ängstigt mich die Tragweite des Ganzen. Bisher verfalle ich wohl deshalb noch nicht in Panik, weil noch nichts geschehen ist, und obwohl wir unser Geld nicht zurückbekommen würden, können wir immer noch unsere Meinung ändern. Uns bleiben dazu noch mehrere Wochen.
Aber ich glaube nicht, dass wir das tun werden.
5
AN DER WAND VON DR. DETTORES monumentalem Büro hing ein großer Flachbildschirm, und direkt davor stand ein halbrundes Ledersofa. Darauf saßen John und Naomi und starrten die Überschrift an, die soeben erschienen war.
Klaesson, Naomi. Genetische Defekte. Störungen.
SEITE EINS VON 16 …
Dettore saß in weißem Overall und Turnschuhen neben Naomi. Er gab etwas auf der Tastatur ein, die in einer Konsole auf dem vor ihnen stehenden, niedrigen
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