Nur Der Tod Kann Dich Retten
machte. Still und zurückhaltend, vielleicht sogar ein wenig schüchtern. Er war sogar rot geworden, als Rita verkündet hatte, dass er Anwalt war, obwohl das vielleicht daran lag, dass die ganze Situation auch ihm peinlich war. Vielleicht wollte er genauso wenig hier sein wie sie, was bedeutete, dass es sich unter anderen Umständen vielleicht lohnen würde, ihn kennen zu lernen. Aber nicht jetzt. Nicht solange die Wunde noch frisch und sie noch so unsicher war, solange sie bei dem bloßen Gedanken an eine Verabredung Magengrimmen bekam, und die Vorstellung mit einem Mann zu schlafen, der nicht Ian war, fast noch beängstigender war als die Möglichkeit, dass ein Serienmörder frei herumlief. Sie musste weg von all diesen Leuten, weg von Rita mit ihrer niedlichen braunen Bubifrisur und den zu stark geschminkten, zu hoffnungsvollen Augen, weg von Ed, seinen vier Frauen, seinem schlecht sitzenden Toupet und seinem Fassaden-Gerede, weg von dem netten bescheidenen Bob mit dem ernsten Gesicht und weg von den Drillingen, weg aus Miss Molly’s Ocean Bar and Grill, weg aus Fort Lauderdale, weg aus Florida.
Fort von sich selbst.
»Sandy?«, fragte eine männliche Stimme über ihrem Kopf. »Bist du es wirklich?«
Sandy drehte sich um und sah einen attraktiven Mann mit grau meliertem Haar, der sie mit einem erwartungsvollen Lächeln
anblickte. Er war groß, schlank und leger gekleidet mit einer dunklen karierten Hose und einem blauen Seidenhemd. Seine Augen funkelten lausbübisch, etwas, was sie immer wahnsinnig anziehend fand. Normalerweise würde sie ein derart gutaussehendes Gesicht nicht vergessen, dachte Sandy und versuchte, es einzuordnen. Aber es fiel ihr weder ein Name noch ein Kontext ein, in den sie das Gesicht einsortieren konnte. Sie raste in Gedanken durch ihre Jahre an der New York University, und als diese kursorische Suche ergebnislos blieb, blätterte sie im Geiste durch ihre alten Highschool-Jahrbücher und versuchte, sich die leeren, nichtssagenden Gesichter von damals mit Falten und Erfahrung vorzustellen. Noch immer nichts. War es womöglich einer von Ians Geschäftsfreunden? Hatte sie ihn auf einem der Dutzenden von Mediziner-Kongressen getroffen, zu denen sie ihren Mann im Laufe der Jahre begleitet hatte? Oder war er vielleicht der Vater eines Schülers entweder von hier oder aus Rochester? Unmöglich. An ein Gesicht wie dieses würde sie sich garantiert erinnern.
»Du erinnerst dich nicht an mich, oder?«, stellte er mit leicht arrogantem Amüsement fest, was ihn sogar noch attraktiver machte.
»Natürlich erinnere ich mich an dich«, sagte Sandy und stand auf, um sich von dem Fremden mit einer Umarmung begrüßen zu lassen.
»Will Baker«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Will Baker«, wiederholte sie laut, löste sich nur widerwillig aus seinen Armen und starrte in haselnussbraune Augen mit kleinen goldenen Flecken. Sie hatte noch immer nicht die leiseste Ahnung, wer er war. »Wie geht es dir?«
»Noch viel besser, seit ich dich getroffen habe«, sagte er und wandte sich Rita und den beiden Männern am Tisch zu. »Will Baker«, sagte er und streckte sowohl Bob als auch Ed die Hand entgegen. »Ein Nachbar aus Rochester von vor hundert Jahren. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich sie für
ein paar Minuten entführe?« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Sandys Hand und zog sie sanft Richtung Ausgang.
Sandy ließ es geschehen, und sobald sie in den kühlen Abend hinausgetreten waren, erfüllte der Geruch des nahen Ozeans ihre Nase. Es war ein wunderschöner Abend, wie ihr erst jetzt bewusst wurde. Die Palmen hinter dem Parkplatz wiegten sich im Rhythmus der Brandung hin und her. Wohin gingen sie? Wer war er? »Wer bist du?«, fragte sie und blieb abrupt neben einem knallroten Porsche stehen.
»Erinnerst du dich immer noch nicht?«
Sandy dachte an die Harrison Street in Rochester, in der sie aufgewachsen war. Auf der einen Seite wohnten die Maitlands, auf der anderen die Dickinsons. Die Dickinsons hatten einen Sohn, aber der war schon ein Teenager, als Sandy noch klein war, weshalb er nicht in Frage kam. Genauso wenig wie der Junge der Careys. Er war klein und untersetzt gewesen, und selbst wenn er zu einem großen Mann herangewachsen wäre und allen Babyspeck verloren hätte, hätte aus ihm kein Will Baker werden können. Außerdem hieß der Mann, wie gesagt, Baker und nicht Maitland oder Dickinson. Soweit sie sich erinnern konnte, hatten in der Harrison Street keine Bakers gewohnt. Genauso
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