Nur die Liebe heilt
geklungen, aber der Wahrheit entsprochen. Den Kindern wirklich helfen zu können war ungeheuer motivierend gewesen. Noch immer wärmte sie das Wissen, dass es in Kalifornien ehemalige Patienten gab, die durch ihre Hilfe ein eigenständiges Leben führen konnten. Natürlich war sie nicht so arrogant zu glauben, niemand sonst hätte so viel erreicht. Aber Tatsache war, dass es nun einmal sie war, die es geschafft hatte.
Vielleicht war sie ihren Patienten immer ein wenig zu nahe gekommen, das mochte schon sein. Jeder Einzelne war ihr wichtig gewesen, nicht nur Cassie. Sie hatte sich über ihre Fortschritte gefreut, hatte sie besucht, wenn sie im Krankenhaus lagen, verängstigte Eltern getröstet – und mehr als einmal war sie nach einer Therapiestunde, in der ein Kind große Schmerzen durchstehen musste, in Tränen ausgebrochen.
Aber nie hatte sie ihre beruflichen Grenzen derart überschritten wie bei Cassie. Sie und Cassies Mutter waren mit der Zeit Freundinnen geworden – zunächst, weil sie beide so leidenschaftlich gerne Schmuck fertigten.
Meredith war Lehrerin gewesen, hatte sich aber mit Schmuck etwas Geld dazuverdient, damit ihr Kind die Pflege bekam, für die ihre Krankenversicherung nicht aufkommen wollte.
Sie hatte Merediths Stärke immer bewundert, ihre Entschlossenheit, alles für ihr Kind zu tun, egal, was es kostete.
Wie Brodie, dachte Evie jetzt, als sie Jacques den Berg hinauffolgte, wo sich der Frühnebel durch die Espen und Kiefern schlängelte. Meredith hätte alles für Cassie getan, aber gegen ihre eigene Krankheit konnte sie nichts ausrichten.
Als bei Meredith Brustkrebs diagnostiziert worden war, hatte Evie sie unterstützt, so gut es ging. Vor allem hatte sie sich um Cassie gekümmert, als Meredith wegen der Chemotherapie zu schwach dazu gewesen war.
Nach einem Jahr hatte der Brustkrebs gestreut und das Lymphsystem angegriffen. Merediths einzige Sorge war gewesen, wer sich nach ihrem Tod um Cassie kümmern würde. Genau wie Evie hatte sie keine Familie, auf die sie zählen konnte – in Merediths Fall gab es nur einen drogensüchtigen Bruder.
Evie hatte Meredith und Cassie an jenem Tag zu sich zum Abendessen eingeladen. Sie aßen Hühnersalat und Frühlingsrollen auf der Terrasse, während der Wind durch die Pfefferbäume wehte.
„Ich muss mich der Wahrheit stellen“, sagte Meredith, das Gesicht ausgemergelt und blass unter dem Kopftuch. Cassie streichelte gerade Evies pummelige Katze und war außer Hörweite. „Niemand kann mir mehr helfen. Ich werde bald sterben.“
Zuerst protestierte Evie, sagte, dass sie alternative Behandlungsmethoden finden würden, aber Mere blieb fest. „Ich weiß das wirklich zu schätzen, und ich habe deinen Optimismus immer bewundert, Evie. Aber ich muss realistisch sein. Ich werde sterben. Vielleicht habe ich noch ein paar Monate, vielleicht etwas mehr, aber es wäre dumm, die Realität zu ignorieren. Und ich muss Vorkehrungen für Cassie treffen, solange ich noch dazu in der Lage bin.“
Das Herz schwer vor Trauer, hielt Evie ihre Hand, erstaunt, wie ruhig ihre Freundin war.
„Wie kann ich helfen?“, fragte sie.
„Witzig, dass du fragst.“ Meredith lächelte sie verlegen an. „Du sollst wissen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, das möchte ich von vornherein klarstellen. Weil ich genau weiß, wie viel ich von dir verlange, und ich möchte nicht, dass du dich zu irgendetwas verpflichtet fühlst.“
„Mere …“ Sie wusste noch, wie groß die Furcht plötzlich gewesen war, wie sie wünschte, das Unvermeidliche noch irgendwie abwehren zu können.
„Ich bitte dich, darüber nachzudenken, Cassie nach meinem Tod zu adoptieren.“
Und einfach so, in einem einzigen Moment, während der Wind noch blies und die Sonne über dem Ozean unterging und ein paar Rotkehlchen in den Bäumen sangen, wurde ihre ganze Welt aus den Angeln gehoben.
Meredith bestand darauf, dass sie in Ruhe darüber nachdachte, sie wollte Evies Antwort erst in einer Woche wissen. Sieben Tage lang kämpfte Evie mit sich. Sie wusste sehr genau, was diese Verantwortung für ihr Leben bedeuten würde. Schließlich hatte sie selbst jahrelang miterlebt, wie Eltern unter der Last eines kranken Kindes fast zusammengebrochen waren.
Zugleich aber wusste sie tief im Herzen, dass eine Adoption das Richtige war.
Und tatsächlich habe ich diesen Schritt nie bereut, dachte sie jetzt, als sie Jacques dabei zusah, wie er die Nase ins Gras drückte. Sie hatte Cassie sehr geliebt –
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