Nur ein einziges Wort
schwerer und manchmal leichter, im Grunde genommen, aber doch immer weiter geht. Ich verstehe deinen Unmut vollkommen. Glaube mir, deine Gedanken bezüglich der Frau, die dir erst gestern über den Weg gelaufen ist, kann ich auf deiner Stirne ablesen. Du brauchst aber doch um Himmels Willen nichts zu übereilen. Sie möchte vielleicht doch wirklich nur deine Stimme hören und nicht nur sie, sondern wir alle. Weißt du was wir jetzt tun“, dabei wendet er sein Gesicht seinem Amtskollegen Herman Winkler zu: „ Ist die ‚Unterkirche‘ frei? Dort habe ich nämlich einen Flügel stehen sehen und dort werden wir uns jetzt hinbegeben. Während ich die Tastatur traktieren werde, wirst du deine Stimme ausprobieren und ich bin mir sicher, dass nach der Gesangsprobe dein Herz wieder Purzelbäume schlagen wird.“
In Windeseile hat Herman Winkler aus irgendeinem der Wandschränke die benötigten Lieder- und Notenb ücher hervorgezaubert und auf geht‘s in die ‚Unterkirche‘, denn eine solche Gelegenheit kann und will sich kein normal sterblicher Mensch entgehen lassen.
Nach wenigen Anschlägen hat Peter Weiler den richtigen Ton gefunden. Fabian Bauer wirkt aufgeregter als die meisten Kinder vor der Weihnachtsbescherung. Dennoch, nach mehrmaligem Summen der Melodie des ersten Liedes, erwacht die alte Routine in ihm. Als fehlten ihm nicht acht Jahre harter Proben, als stände er wieder wie früher auf einer der ihm vertrauten und bekannten Weltbühnen, singt er zuerst einige für ihn leichtere Melodien. Doch dann stimmt Peter Weiler auf dem Flügel Franz Schuberts „Ave Maria“ an und die wunderschöne, klangvolle Tenorstimme Fabian Bauers erschallt in der Unterkirche der ‚St. Mary’s‘ Kathedrale mit einer solch‘ brillanten Macht, dass selbst die in den buntverglasten Fenstern abgebildeten Heiligenfiguren den Eindruck einer gewissen Lebendigkeit ausstrahlen.
Es tritt das ein, was der Pfarrer seinem Freund vor nicht Mal einer Stunde prophezeit hat. Fabians Freude ist so überwältigend, dass er die beiden Geistlichen an sich drückt und seinem Freund Peter in seiner Überschwän glichkeit mit einem hörbaren Schmatzer einen Kuss auf seine Glatze drückt. Herman Winkler möchte in seinem Übereifer unverzüglich einige seiner wichtigsten Chormitglieder und ganz besonders den Chorleiter von der seiner Meinung nach unweigerlichen Programmänderung am ‚Heiligen Abend‘ verständigen. Doch Fabian legt seine beiden Hände auf des Pastors Schulter:
„Nein Pfarrer Winkler, bevor sie irgendetwas unternehmen, möchte ich ihnen einen Vorschlag unterbreiten: Ich werde das ‚Ave Maria‘ wie vorgesehen hier in diesem Raum natürlich für alle aber ganz besonders als Übe rraschung für eine Person, die mir sehr am Herzen liegt, singen. Dennoch wird es für alle Anwesenden nicht der Höhepunkt sein, denn jemand mit der schönsten und zartesten Kinderstimme, die ich je gehört habe, wird, begleitet von den beiden Chören, eines der schönsten mir bekannten Lieder solo singen, nämlich das ‚Ave Maria, wenn ich ein Glöcklein wär.‘ Und ich werde der stolzeste ‚Papa‘ der Welt sein.
Bitte lass uns so verbleiben. Nun habe ich solchen Hunger, dass ich euch beide in ein kleines Restaurant mit ‚Wiener Einschlag‘, welches ich zufällig heute Morgen beim Vorbeigehen hier in eurer Nähe entdeckt habe, einladen möchte.“
Die nächsten beiden Tage bringen eigentlich nichts Erwähnenswertes. Die kleine Stefanie fühlt sich im Hause der Königs fast so wohl wie daheim in Ebenthal. Tatjana behandelt das Kind so mütterlich, wie es eigentlich nur einer leiblichen Mutter vorbehalten ist. Doch Fabian gegenüber verhält sie sich weiterhin sehr reserviert. Auch die kleinen inzwischen täglich in andersfarbigen Briefumschlägen meistens mit Gedichten versehenen Briefe, die er in seinen Mantel- und Jackentaschen findet, ändern interessanterweise absolut nichts an ihrem Verhalten oder Umgang zu ihm.
Dennoch, nur einen Tag bevor das Haus der Königs sich mit Kindern und Enkelkindern füllt, passiert für Fabian etwas Unerwartetes, ja Unfassbares, als er gegen Mittag auftaucht, um seine Tochter für einen Einkaufsbummel abzuholen. Während ‚Omi Elisabeth‘ Stefanie beim Anziehen ihrer Winterbekleidung behilflich ist, sind die Handschuhe des Kindes nicht auffindbar. Noch bevor Elisabeth ihre Tochter Tatjana, die sich gerade im Obergeschoß aufhält, fragen kann, steht das kleine Mädchen bereits auf der untersten
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