Nur ein Hauch von dir
gelassen. Im kalten Licht des Tages wurde mir klar, dass ich mich nicht weiter mit etwas herumquälen durfte, das wahrscheinlich nur ein Hirngespinst war. Was ich gesehen hatte, konnte unmöglich real gewesen sein. Die Gestalt in der Kathedrale, das Gesicht im Spiegel – das alles war Unsinn, es gab keine rationale Erklärung dafür. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und unter der Bettdecke verkrochen, doch da konnte ich auch nicht immer bleiben. Ich holte tief Luft und setzte mich auf. Es war an der Zeit, in der richtigen Welt weiterzumachen.
Meine Prüfungen waren vorbei, es war Freitag, und morgen hatte ich ein Date mit einem der heißesten Typen der Schule. Ich konnte mich wirklich nicht beschweren.
Ich dachte an Robs Gesicht, seine dunkelbraunen Augen und sein vielsagendes Lächeln. Er war hübsch, räumte ich ein, und er war unglaublich gut in Form. Ich musste nur überlegen, wie ich mit ihm und seinen Erwartungen umgehen sollte. Das war die Frage, mit der ich mich rumschlagen sollte, nicht damit, wie ich meine Halluzinationen reanimieren konnte.
Es war ein langweiliger Schultag, und wir waren alle froh, als wir nach dem Schlussklingeln endlich im Bus saßen. Am Abend wollten wir uns wieder in Richmond treffen, in einer der Kneipen am Fluss. Grace hatte ihren Vater dazu überredet, sie zu fahren, und sie kamen vorher bei mir vorbei und gabelten mich auf. Wie üblich beäugte Grace mich während der Fahrt kritisch, fummelte an meinen Klamotten herum und fügte ein oder zwei Accessoires aus ihrer riesigen Handtasche hinzu. Ich konnte sie davon überzeugen, dass ich nur deshalb ein bisschen gammelig aussah, weil ich mein coolstes Outfit für das Date mit Rob aufheben wollte.
Weder Rob noch Jack waren an diesem Abend mit dabei, weil irgendein wichtiges Kricketturnier stattfand. Grace und ich hielten Kricket für das langweiligste Spiel der Welt und hatten uns noch nie dazu zu überreden lassen, bei einem Wettkampf zuzuschauen. So war es ein Mädelsabend, und die Mädels waren dann immer etwas lauter, als wenn die Jungs dabei waren.
Wir waren die Ersten in der Kneipe und erwischten einen Tisch auf der Galerie, von dem aus wir den Sonnenuntergang über dem Fluss beobachten und außerdem sehen konnten, was auf der Terrasse los war. Es war ein großes Gelände am Ufer der Themse, das sich bis zur Richmond Bridge hinzog. An beiden Enden gab es Kneipen und Bars und zwischendrin viel Gras und Sitzgelegenheiten. Wie an jedem Freitagabend im Sommer war hier viel Betrieb wegen der vielen Schüler, von denen anscheinend die meisten ihre Jahresabschlussprüfungen hinter sich hatten und ziemlich ausgelassen waren. Es war recht wahrscheinlich, dass im Laufe des Abends noch jemand in den Fluss fallen würde.
Grace war total aufgedreht, ihre dunklen Augen funkelten vor Aufregung. Sie war immer noch hin und weg wegen Jack.
»Komm schon«, drängelte ich. »Wie läuft's mit dir und Jack? Das sind jetzt ja schon vier Tage.«
»Also«, legte sie los und wirkte, als würde sie vor Begeisterung gleich platzen. »Er hat mir jeden Tag eine SMS geschrieben.«
»Was, nur eine am Tag?«
»Nein. Eher jede Stunde oder alle zehn Minuten.« Sie glühte vor Glück. »Ich denke mal, das ist ein gutes Zeichen.«
»Das finde ich auch«, stimmte ich ihr zu und freute mich sehr für sie. »Ich kenne ihn schon ein paar Jahre, und er war nie groß im Schreiben. Du hast offenbar schwer Eindruck auf ihn gemacht.« Ich drückte ihre Hand, und Grace strahlte mich an. »Du und Jack, ihr passt echt gut zusammen.«
»Ich hoffe. Ich hab so lange darauf gewartet, dass er mich bemerkt. Ich will nur sicher sein, dass ich ihn nicht vergraule, weil ich zu anhänglich bin. Also eigentlich«, fügte sie hinzu, »sollte ich von dir lernen. Ich kenne keine, die so auf cool macht.«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, murmelte ich. Aber sie ließ nicht locker.
»Alex, von dem Augenblick an, als Rob gesagt hat, dass er mit dir nach Cornwall will, benimmst du dich, als wüsstest du nicht genau, ob du mitmachen willst oder nicht. Das macht ihn wahrscheinlich wahnsinnig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das schon mal bei einem Mädchen erlebt hat.«
»Oh.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Also … Es gibt doch keinen Grund, gleich alles mitzumachen, oder?«
»Ich finde es ganz schön schlau. Ich hab ihn noch nie so überdreht gesehen wegen einem Mädchen.«
Ein paar Sekunden lang fummelte ich an meinem Glas herum, während ich nach der
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