Nur ein Jahr, Jessica!
Hamburg, „wir“ bedeutet also Frau Ingwart, Falko und ich. Ich durfte vorne neben Falko sitzen, hinten gab Frau Ingwart ihrer Schwiegertochter die letzten Ermahnungen, guten Ratschläge und Grüße mit auf die Reise.
Wir waren viel zu früh am Flughafen. Es ist Frau Ingwarts Schuld. Aber sie hat recht, wenn sie sagt: „Kinder, das Flugzeug wartet nicht, und wenn wir eine Reifenpanne bekommen, müssen wir genügend Zeit für einen Reifenwechsel haben!“
Wir hatten aber keine Reifenpanne, also waren wir am Flughafen beinahe zwei Stunden vor Abflug der Maschine.
Kaum hatten wir aber die Wartehalle betreten, schrie Reni auf, ließ alles, was sie in den Händen hielt, fallen – auch eine Bonbontüte, Falko und ich mußten sechsundvierzig Bonbons zusammenklauben – und rannte einem Herrn in die Arme. Es war ihr Vater! Die Mutter stand neben ihm. Ich hatte ihre Eltern bei Renis Hochzeit kennengelernt, und auch ich freute mich, sie wiederzusehen!
„Wo ist das ,Zentrum’ eurer Welt?“ fragte Reni.
Ich mußte schnell Falko erklären, daß das „Zentrum“ Renis zwei Jahre alter Bruder sei – oder genau gesagt ihr Halbbruder. In der Familie treffen die Worte zu: „Mein Kind, dein Kind und unser Kind!“
„Er kompliziert heute Christels Leben“, sagte schmunzelnd Herr Thams. „Die gute Seele hat es freiwillig auf sich genommen, den ganzen Tag auf unseren lebensfrohen Sprößling aufzupassen!“
„Wie gut, daß Christel einen Arzt geheiratet hat“, meinte Reni. „Nachher wird sie bestimmt eine Kreislaufspritze brauchen! Und ihr werdet den ganzen Tag in Hamburg rumbummeln? Ihr seid mir ein paar Rabeneltern! Ich fange an, mir zu überlegen, ob ich nicht doch hierbleibe. Ihr wollt euch anscheinend einen schönen Tag in Hamburg machen, meine drei Lieben hier wollen dasselbe! – Ach, entschuldigt, ihr kennt Falko ja nicht: cand. med. Falko Eichner, Jessicas Verlobter.“
Frau Thams und Frau Ingwart kennen sich gut, da ja ihre Kinder miteinander verheiratet sind, und mögen sich sehr gern. Frau Ingwart behauptet, es liege wohl daran, daß sie beide mit zweiundvierzig Jahren zum letztenmal Mutter wurden. Sie ziehen immer Vergleiche zwischen dem jetzigen Thams-Wunderkind und dem damaligen Ingwart-Wunderkind!
Wir landeten in der Warteraumgaststätte, wo Renis Vater uns alle zu einer Erfrischung einlud. So verging die Zeit sehr schnell und angenehm, und ehe wir uns versahen, wurde Renis Flugzeug schon aufgerufen.
Sie verteilte schnell fünf Umarmungen – in der Eile bekam Falko auch eine – und verschwand. Hinter den Glastüren sahen wir sie noch einmal winken. Herrgott, wie glücklich ist sie und wie ich es ihr gönne!
Dann fielen meine Augen auf die beiden Mütter – die junge und die alte. Beide wischten mit einem Taschentuchzipfel in den Augenwinkeln.
„Ach, ich bin so dumm!“ entschuldigte sich Frau Thams. „Aber immer habe ich etwas Angst, wenn meine Kinder oder auch mein Mann fliegen…“
Frau Ingwart putzte sich die Nase.
„Wem sagst du das? Aber du bist doch jung, du bist sozusagen mit Flugzeugen aufgewachsen, ich dachte…“
„Ich habe auch nie Angst, wenn ich selbst fliege!“ versicherte Frau Thams. „Aber wenn meine beiden Töchter oder meine vielbeschäftigten Schwiegersöhne kreuz und quer durch die Lüfte fliegen oder wenn mein Mann am Mittagstisch so zufällig zwischen zwei Löffeln Suppe sagt: ,Ach ja, richtig, am Donnerstag fliege ich für ein paar Tage nach New York!’ – dann kommt mir doch ein kleiner Angstkloß in den Hals!“
„Wie wird es dir dann erst gehen, wenn unser Stammhalter groß ist?“ Herr Thams schmunzelte. „Unsere Reni hat mir ein altes Auto abgebettelt, unser Herr Sohn macht es bestimmt nicht unter einem Hubschrauber!“
Wir mußten lachen. Und dann fragte Herr Thams uns, was für Pläne wir für den Tag hätten. Und als er erfuhr, daß wir chinesisch essen gehen wollten, war er Feuer und Flamme und lud uns alle ein. Aber er kann es sich schon leisten, fünf Personen chinesisch zu sättigen.
Und jetzt, Mutti, paß einmal auf. Was jetzt kommt, geht in erster Linie Dich an, denn jetzt kommt meine Idee! Und sollte sie durchführbar sein, was ich sehr hoffe, wird die Hauptarbeit auf Deinen Schultern liegen!
Also, das Essen war ein Gedicht, ein Traum! Frau Ingwart imponierte uns allen dadurch, daß sie mit Stäbchen aß! Sie erklärte, sie hätte es in ihrer Jugend in Indonesien gelernt. Ihr Mann arbeitete ja als Tropenarzt ein Jahr in Indonesien.
Wir
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