Nur ein Jahr, Jessica!
wegzunehmen. War das vielleicht ein Theater! Zuletzt versprach ich ihr eine sehr schöne Tablette, wenn sie noch zwei Stunden vernünftig sei. Sie bettelte, und sie drohte, einmal versuchte sie sogar, die Bremse zu ziehen. Da wurde mir klar, daß etwas geschehen mußte. Ich gab ihr die Tablette und sagte, sie würde Opium enthalten, was eine glatte Lüge war. Es handelte sich um eine ganz gewöhnliche Schlaftablette! Dann hatte ich vier Stunden Ruhe, ich steckte ihr ein Kissen unter den Nacken, und sie schlief fest. Ich raste los, so schnell, wie der Wagen es nur schaffte und wie ich es verantworten konnte. Als sie dann aufwachte, behauptete sie, zur Toilette gehen zu müssen. Also hielt ich bei einer Raststätte an. Sie verschwand und kam nicht wieder. Dann ging das Gesuche los. Ich fand sie endlich hinter einem Lieferwagen auf dem Parkplatz, da stand sie im Gespräch mit einem verdächtig aussehenden Mann und kratzte ihr Geld zusammen. Weiß der Himmel, wie sie den Kerl gefunden hat und woher sie wußte, daß er ,Stoff' besaß.
Na, ich werde dir die weiteren Einzelheiten ersparen! Nur wir schafften es an einem Tag nicht. Ich steckte sie in ein Zimmer in einem Motel, gab ihr noch eine Schlaftablette in die Hand und ließ sie sicherheitshalber eine mikroskopische Menge von dem Haschzeug, das sie sich erhandelt hatte, behalten. In der Rezeption erklärte ich, die Dame sei sehr müde und überanstrengt nach einer Krankheit – was insofern stimmen durfte! Dann ging ich zurück auf den Parkplatz und schlief im Wagen.
Am folgenden Tag mußte ich wieder ein paar Körnchen Hasch rausrücken. Ja, das klingt furchtbar, aber es wäre zu gefährlich gewesen, ein ganz verrücktes Frauenzimmer neben sich im Auto zu haben. Und du weißt ja, ein süchtiger Mensch kann nicht von heut auf morgen geheilt werden, nur schrittweise.
Dann kamen wir endlich am Freitag an. Die Eltern hatten uns erwartet, Reinhard hatte ihnen geschrieben, daß Sabine sie besuchen würde, und ein Freund von ihm würde sie hinbringen. Ich log etwas zusammen, daß das arme Töchterlein so furchtbare Kopfschmerzen hätte. Nun, die Mutter brachte Sabine ins Bett, und dann stand mir das Furchtbare bevor, dem armen Vater die Wahrheit zu sagen. Es war schrecklich, Jessi! Zuerst war er vollkommen erschlagen. Dann handelte er. Er rief einen Kollegen an, der bereit war, die Patienten für diesen Nachmittag zu übernehmen. Der Mann ist ja ein vielbeschäftigter Arzt, und wir trafen gerade bei seiner Mittagspause ein. Ja, und dann fragte er mich sehr genau, seit wann und was Sabine genommen und gespritzt hätte. Ich sage dir, Jessi, es war ein furchtbares Zeug, was sie sich direkt in die Vene gejagt hatte! Daß sie nicht eine Blutvergiftung bekommen hat, ist mir schleierhaft.
Nun ja, ich habe dann dort übernachtet und schlief vierzehn Stunden ununterbrochen! Gestern bat die Mutter mich um ein Gespräch, dann mußte ich zu Sabine, die noch im Bett lag. Sie wollte allein mit mir sprechen, das heißt, sie bettelte wieder um ,Stoff'. Aber den Rest von dem, was sie unterwegs erstanden hatte, hatte ich nun ihrem Vater gegeben. Jessi, wenn du wüßtest wie so etwas einen hübschen, netten jungen Menschen zerstören kann! Wenn du das heulende, weinende, häßliche Weibsbild gesehen hättest, die nach Gift schrie – das hübsche Gesicht sah grau und zerfurcht aus, die Augen matt und gerötet, die Haare zerzaust! Sie krallte sich an meinen Arm, sie versprach mir goldene Berge, sie bot sich an, meine Geliebte zu werden. Zuletzt schlug und kratzte sie mich. Jessi, ich glaube, das ist das größte Unglück, das einen Menschen treffen kann. Sabine war vorher hübsch und nett, eine reizende kleine Hausfrau, es war immer so gemütlich bei ihr und Reinhard gewesen. Und was ist sie jetzt? Sie hatte allerdings behauptet, sie sei nicht süchtig, sie könne jederzeit aufhören, aber sie kann es nicht! Sie ist überaus süchtig. Und was die armen Eltern jetzt aufbringen müssen an Geduld, Liebe und medizinischer Kunst, ja, daran wage ich nicht zu denken.
Es war unbeschreiblich schön, als ich mich gestern in den Wagen setzen und all das Häßliche hinter mir lassen könnte. Die armen Eltern, sie haben sich so rührend bei mir bedankt – dabei hatte ich ihnen kein Wort über die Fahrt erzählt! Die Mutter sah um etliche Jahre älter aus, der Vater war blaß, aber beherrscht. Aber dann wird man Egoist, man guckt auf die Uhr und weiß, daß man in sechzehn Stunden sein eigenes,
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