Nur ein Katzensprung
es Kofi beinahe feierlich.
„Alles, was Sie über die Dialysebehandlungen wissen müssen“, stand darauf. Kofi blätterte es auf. Nach einigen Seiten mit Informationen und Schemazeichnungen folgten Blätter, auf denen Daten eingetragen waren.
„Der letzte Termin steht ganz hinten“, sagte Kruse mit brüchiger Stimme. „Unmittelbar vor dem nächsten.“ Nach einer Pause, in der Kofi durch das Heft blätterte, ergänzte er: „Warum lassen Sie mich nicht endlich in Frieden? Ich habe einen Fehler gemacht, einen. Dafür habe ich im Gefängnis gesessen, genau so lange, wie man mich verurteilt hatte. Ich habe keinen Antrag auf vorzeitige Entlassung gestellt, nichts dergleichen. Ich habe meine Schuld gesühnt.“ Seine Stimme war immer leiser geworden.
Dafür war ihre umso lauter, beinahe schrill. „Es war nach dem Schützenfest, mein Mann hatte zu viel getrunken, wir hatten uns gestritten, da hat er … da ist er …, ich weiß, es gibt keine Entschuldigung für eine Vergewaltigung, aber warum muss mein Mann sein ganzes Leben lang für einen einzigen Moment büßen, in dem er die Kontrolle über sich verloren hat?“
Was sollte Kofi ihr darauf antworten? Ihm fehlten nicht oft die Worte, doch hier war er sprachlos. Seine widerstrebenden Gefühle müssen sich wohl deutlich in seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn Herr Kruse sagte traurig: „Lass gut sein, Ella, er versteht es sowieso nicht, will es gar nicht verstehen.“
Kofi wollte sich rechtfertigen, etwas erklären, wusste aber nicht wie. Er zuckte mit den Schultern. „Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich hoffe, Sie verstehen, dass …“
„Dass Sie automatisch meinen Mann verdächtigen, sobald jemand vergewaltigt wird?“
„Nein, wir überprüfen alle …“
„Mein Mann hat sich noch nie an kleinen Kindern vergangen, und das wird er auch in Zukunft nicht tun. Gehen Sie, gehen Sie einfach und kommen Sie nie wieder.“
Kofi verabschiedete sich und beschloss, auf der Dienststelle sofort zu prüfen, ob es eine Möglichkeit gab, Kruses Datensatz mit einer Ergänzung zu versehen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass von Kruse noch eine Gefahr ausging.
Manchmal war es wirklich tragisch, eine Entscheidung, links und nicht rechts abbiegen, das Telefongespräch noch annehmen, bevor man das Haus verlässt, diesen Bus oder den nächsten nehmen, mit der Titanic fahren oder aufs nächste Schiff warten.
17
Irenes Hände zitterten, als sie den Schlüssel in das Schloss in Leons Wohnungstür steckte.
Sie war von Kims Schule aus direkt zu @dospasos gefahren und hatte den Schlüssel aus der Schublade genommen. Obwohl Stella und Oliver in ihren Büros arbeiteten, war sie ganz sicher, dass die beiden ihre Stippvisite gar nicht bemerkt hatten.
Anschließend war sie in ihrem Wagen an Leons Wohnung vorbeigeschlichen, hatte versucht zu erkennen, ob Licht brannte, ob sich etwas rührte. Schließlich hatte sie in einer Querstraße geparkt und war zu seinem Haus spaziert.
In der Bäckerei gegenüber hatte sie sich einen Coffee-to-go bestellt, den sie dort getrunken hatte. Die Verkäuferin hatte ihr eine Menge erzählt, doch Irene hatte sich nicht getraut, sie nach Leon zu fragen. Dabei hätte sie sogar ein Foto von ihm in der Handtasche gehabt.
Während sie die Straße überquerte, schaute sie sich nach allen Seiten um. Beinahe musste sie über sich selbst lachen. Wer sollte mitten in Holzminden auf offener Straße auf sie lauern? Sie ertappte sich dabei, dass sie damit rechnete, Leon in seiner Wohnung anzutreffen. Ein kleiner Teil von ihr redete sich ein, es für möglich zu halten, dass er einfach keinen Bock auf Arbeit gehabt und sich ein verlängertes Wochenende gegönnt hatte. In diesem Fall fände sie ihn schlafend auf dem Sofa oder Reiseprospekte und Buchungsbestätigungen belegten, dass er sich in der Sonne aalte. Allerdings konnte sie sich Leon überhaupt nicht faulenzend am Strand vorstellen.
Den Teil von ihr, der hartnäckig anzumerken versuchte, dass dort oben in der Wohnung durchaus Leons Leichnam liegen könnte, verwies sie streng in seine Schranken und machte das Licht hinter ihm aus.
Jetzt hatte sie den Schlüssel herumgedreht und drückte die Tür auf, vorsichtig, langsam. Dann schnupperte sie, was ein wenig nutzlos war, da sie keine Ahnung hatte, wie eine Leiche riechen sollte. Sie schob die Tür weiter auf und spürte einen Widerstand. Sofort hielt sie inne. Lag da jemand? Nein, dazu ließ sich die Tür zu leicht
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