Nur ein Katzensprung
keiner.“ Sie stockte. „Der Sicherheitsdienst soll nicht nur aufpassen, sondern auch suchen. Die Polizei bekommt Tausende von Anrufen und E-Mails von Bürgerinnen und Bürgern, die etwas Ungewöhnliches beobachtet haben. Die können gar nicht allen Hinweisen nachgehen.“ Sie lächelte schwach. „Wir rufen im Täglichen Anzeiger dazu auf, sich bei uns zu melden und gehen JEDER Beobachtung nach. Ich bin dabei, Sie auch?“, fragte sie und übergab das Mikrofon an Gerd Schwarze, der ihr fürsorglich einen Stuhl hinschob.
Irene hatte genug gehört. Für sie kam das nicht in Frage. Sie war froh, wenn sie ihren Arbeitstag über die Bühne bekam, ohne dass Kim zu viel allein war. Patrouille gehen oder Anrufe von Wichtigtuern entgegenzunehmen, passte gar nicht in ihren Tagesplan, und es gefiel ihr auch nicht.
Am Ausgang traf sie auf Frau Weisz, die bei einigen Kindern stand, die malten.
„Kim hat einen wunderbaren Aufsatz geschrieben. Fantasie hat sie, unglaublich“, sagte Frau Weisz.
„Sie meinen die Reizwortgeschichte?“
„Genau.“
Irene lachte. „Sie hat den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht. Am liebsten hätte sie das ganze Heft vollgeschrieben.“
„Das ist toll. Sie glauben gar nicht, wie viele Kinder einfach nur Märchen oder Geschichten wiedergeben, die man ihnen vorgelesen oder erzählt hat.“ Die Lehrerin wirkte bekümmert.
Irene fand das nicht so schlimm und wechselte lieber das Thema. „Wie ist es im Unterricht? Haben die Kinder Angst? Reden sie darüber?“
Frau Weisz schaute sich prüfend um, so als wollte sie keine ungebetenen Zuhörer, wenn sie antwortete. „Das ist ganz unterschiedlich.“ Sie zeigte mit dem Finger auf die versammelten Eltern. „Alle Verhaltensweisen, die Sie da drinnen antreffen, finden Sie auch bei den Kindern. Es gibt ganz stille, bei denen man nicht erraten kann, was sie denken. Andere haben nah am Wasser gebaut und brechen völlig zusammenhanglos mitten in einem Spiel, beim Malen oder Essen in Tränen aus.“ Sie rückte ein Stückchen näher an Irene heran. „Leider gibt es auch zwei, die zu Hause etwas von Verbrechern gehört haben, die man aufhängen, erschießen oder köpfen sollte. Sie benutzen alles als Waffe und denken sich dauernd neue Kampfszenarien aus.“
„Wie reagieren die anderen darauf?“
„Glücklicherweise verstehen die meisten den Zusammenhang gar nicht.“
Irene hob einen Stift auf, der heruntergefallen war. „Ich habe versucht, Kim alles möglichst ruhig, aber trotzdem eindringlich zu erklären.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Was und wie viel sie verstanden hat und was ihre Fantasie daraus macht, kann ich natürlich nicht wissen.“
„Um Kim mache ich mir keine Sorgen. Sie ist ein fröhliches, intelligentes Mädchen.“
„Danke.“ Irene freute sich über das Lob.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Holzminden
Mittwoch, 2. November 2011
gegen 8.30 Uhr
22
Kofi hatte keine Lust. Er wollte nicht zum Dienst gehen. Er wollte nichts mehr von entführten Kindern hören, wollte keine Kinderleichen finden. Er wollte seine Ruhe. Einfach im Bett liegen bleiben und vor sich hin dösen.
Es gab Dinge, die durften nicht passieren. Er legte sich die Hand auf die Stirn und prüfte, ob er vielleicht Fieber hatte. Eher nicht. Versuchsweise hustete er. Keine Halsschmerzen. Vorsichtig bewegte er den Kopf. Kein Schwindel, kein Kopfschmerz. Mist, er war kerngesund. Trotzdem fühlte er sich schlapp wie ein Salatblatt nach drei Tagen Kühltheke.
Ob eine Tasse Kakao ihm helfen würde?
Er setzte sich auf, stellte beide Füßen nebeneinander auf den Bettvorleger und betrachtete sie eingehend.
Was ihn am meisten nervte, war, dass es nicht den geringsten Anhaltspunkt gab, dass sie keine Chance hatten, nicht die allergeringste, Kelvin oder Emma zu finden.
Es sei denn …, es sei denn, es geschah ein Wunder. Ein Wunder? Und wovon träumst du nachts? Wunder gab es nur in Schlagertexten und Weihnachtsfilmen.
Nichtsdestotrotz. Es musste Hinweise geben. Sie hatten sie bisher nur nicht erkannt.
Er stand auf, ging ins Badezimmer. Vielleicht doch, vielleicht hatte ein Anrufer etwas beobachtet, was sie weiterbrachte. Vielleicht wartete die alles entscheidende Information bereits auf seinem Schreibtisch auf ihn.
Je mehr er darüber nachdachte, umso schneller bewegte er sich. Er rubbelte seine kurzen, lockigen Haare mit dem Handtuch trocken, stürzte den Kakao hinunter und lief aus der Wohnung.
Kaum
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