Nur ein Katzensprung
setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs. Die Zeigefinger presste sie gegen ihre Schläfen, verdrehte die Augen. Es klang hohl, als sie wieder sprach: „Kennen Sie ,Die Welle‘ von Morton Rhue? Wurde auch verfilmt, mit Jürgen Vogel, wenn ich mich recht erinnere.“
„Das Buch haben wir in der Oberstufe in Englisch gelesen“, erinnerte sich Kofi.
Sie schloss die Augen und rezitierte: „Es ist das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein, das wichtiger ist als man selbst. Man gehört zu einer Bewegung, einer Gruppe, einer Überzeugung. Man ist einer Sache ganz ergeben … Das hat der Lehrer, Mr. Ross, in der zweiten Unterrichtseinheit zum Thema Macht durch Gemeinschaft gesagt, und er hat recht, er hat völlig recht. Geben Sie den Menschen eine Aufgabe, binden Sie sie in etwas Großes, etwas Sinnvolles ein, und sie gehen für Sie durchs Feuer.“
„Macht durch Gemeinschaft“, Guntram Schnitter probierte die Wörter aus, erwog ihre Bedeutung und nickte endlich zustimmend. „Das klingt einleuchtend. Schließlich will jeder irgendwie dazugehören. Ist das nicht bei den Hooligans ganz ähnlich?“
Plötzlich spitzte Frau Ebenreiter buchstäblich die Ohren. Erst als sie die Hand an ihr Ohr hob, hörte auch Kofi, dass es auf dem Flur laut geworden war. Die Schulleiterin stürzte aus dem Büro. Kofi und Guntram rannten hinterher. Sie kamen in die Eingangshalle. Kofi sah zwei Frauen, die eine schwere Kiste schleppten. Jemand hielt die Eingangstür auf, vor der ein Transporter stand, der wohl gerade entladen wurde. Direkt daneben gab es einen Tumult.
Zwei Männer beugten sich über einen dritten, eine massige Gestalt, die am Boden lag. Sie schützte ihren Kopf mit den Händen und stöhnte leise. Zwei Frauen hielten ein Mädchen fest, das um sich schlug und immerzu „Paul, Paul“ rief und laut weinte.
Kofi und Guntram brauchten sich nicht abzusprechen. Sie trennten die Männer. Kofi sprach den am Boden liegenden an. „Kriminalkommissar Kofi Kayi. Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie sich verletzt?“
Der Mann stöhnte leise.
Inzwischen hatte Guntram die beiden anderen Männer, beide trugen rote Armbinden, zur gegenüberliegenden Seite bis an die Wand gedrängt. Kofi konnte nicht hören, was sie sagten. Er hockte sich neben den Mann nieder und fragte: „Heißen Sie Paul?“
Und plötzlich fiel ihm ein, dass er den Mann kannte. Auf einmal tauchte das Mädchen neben ihm auf, es setzte sich auf den Boden und nahm die Hand des Mannes. „Das ist Paul“, flüsterte sie. „Er holt mich ab, weil Mama keine Zeit hat, damit mir nichts passiert. Er ist mein Freund.“
Kofi streichelte ihr über den Kopf, zog erschrocken seine Hand zurück. Er räusperte sich. „Wir kümmern uns um deinen Freund. Ganz bestimmt“, sagte er tröstend. Dann sprach er wieder lauter direkt zu dem Mann am Boden: „Sind Sie verletzt? Soll ich einen Krankenwagen für Sie holen?“
„Nein, danke, geht schon.“ Paul setzte sich langsam auf. Auf seiner Stirn bildete sich eine Beule. Er bewegte den Kopf von rechts nach links. Eine Träne löste sich aus seinem Auge und kullerte über seine Wange. „Die Männer sind zornig“, sagte er vorwurfsvoll, ohne zu den beiden hinüberzuschauen, die mit hängenden Armen vor der Wand standen.
Kofi nickte. Dann richtete er sich auf und hob einen Arm. Das Gemurmel um ihn herum erstarb. „Das muss aufhören“, rief er und zeigte auf Paul. „Er ist nicht der erste Unschuldige, der leiden muss.“ Dann erinnerte er sich an das Bild von der Macht durch Gemeinsamkeit, das ihn bereits am Gymnasium fasziniert hatte, und setzte hinzu: „Wir müssen alle zusammenhalten, unsere Kinder beschützen, aber auch untereinander für Sicherheit sorgen.“
„Das mit Paul tut uns leid“, sagte eine der Frauen, die zwei Mädchen an den Händen hielt. „Wir stehen alle unter Stress.“
„Ich habe Angst, meine Tochter auf die Straße gehen zu lassen.“
„Dieser Mann hat noch nie ein Kind hier abgeholt, da befürchteten wir …“
„Hätten Sie ihn nicht einfach fragen können?“
„Haben wir ja, aber er hat komisch geantwortet.“
„Und das ist ein Grund, ihn zusammenzuschlagen?“
Kofi fühlte Wut in sich aufsteigen.
„Niemand hat ihn zusammengeschlagen. Wir wollten ihn nur von den Kindern fernhalten, und da hat er sich gewehrt und ist dabei gestürzt.“
„Klar, er sollte ja auf Kim aufpassen.“
Guntram kam zu Kofi herüber und sagte: „Bitte, meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir uns
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