Nur ein Katzensprung
war’s nicht, verdammt. Ich habe diese beschissene Bude noch nie betreten.“ Erschrocken senkte sie ihre Stimme wieder. „Außerdem mache ich mir nichts aus Leon.“
Das konnte Irene nicht auf Anhieb glauben.
Eine Träne lief über Stellas Wange. „Anfangs war ich in Oliver verliebt. Sein Gang, sein Timbre, immer so kühl und geradlinig. Aber inzwischen macht er mir Angst.“ Sie sah auf, wischte die Träne weg. „Er hat mir gesagt, er hätte keine Zeit für eine Beziehung. Für ihn kommt die Karriere an erster Stelle. Er will die Firma. Jetzt, da Leon weg ist. Um jeden Preis. Ich bin ihm egal. Du interessierst ihn nicht. Er will @dospasos und damit möglichst viel Geld in kurzer Zeit verdienen.“
„Willst du auf diese Weise sagen, er habe Leon verschwinden lassen?“
„Nein, auf keinen Fall. Das ist viel zu früh. Noch ist das Unternehmen nicht etabliert. Er braucht Leon noch, wir brauchen ihn noch, seine Weitsicht, seine Kreativität und seine Visionen. Ohne ihn wird‘s viel schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich.“
Irene dachte nach. „Ich hatte in den letzten Monaten überhaupt nicht den Eindruck, dass Oliver mit dem Firmensitz unzufrieden war. Ich hatte das Gefühl, er hätte sich arrangiert.“
„Hm, könnte sein“, gab Stella zu. „Zumindest hat er sich nicht mehr negativ geäußert, mir gegenüber auch nicht.“
„Seit wann?“
Stella überlegte. „Sechs Wochen, höchstens acht.“
„Gab’s dafür einen Grund?“
„Die Geschäfte liefen gut. Kein Kunde beschwerte sich über fehlende Parkplätze.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Fällt mir erst jetzt auf, weil du gefragt hast. Er hat nicht einmal mehr gemosert, dass er sich immer den Kopf an der Dachschräge stößt, wenn er sich einen Kaffee holt.“
„Was glaubst du, was passiert ist?“
„Keine Ahnung. Auf jeden Fall sollst du wissen, dass ich nicht deine Feindin bin.“
Irene mochte sich mit dem Gedanken noch nicht richtig anfreunden, deshalb sagte sie halbherzig: „Das ist nett von dir.“
Eine Pause trat ein.
„Was wollen wir jetzt machen?“, fragte Irene schließlich.
„Ich weiß es doch nicht.“ Dann wisperte Stella: „Ich glaube, Oliver hat Nachschlüssel.“
„Was für welche?“
„Für Leons Büro und die doppelte Wand und seine Wohnung, alle Schlüssel, die in deiner Schublade liegen.“
„Ihr wisst davon?“
„Von Anfang an. Oliver lässt nicht zu, dass jemand vor ihm Geheimnisse hat.“
„Wir schließen gleich, dürfte ich kassieren?“
Beide Frauen erschraken, als sie die Stimme der Bedienung hörten.
Stella bezahlte, und sie verließen Hellers Krug zusammen.
Erst als Irene in ihrem eigenen Wagen saß, kam sie dazu, über das Gespräch nachzudenken. Log Stella? Oder hatte sie ihr bisher etwas vorgespielt? Die Geschichte, die sie erzählt hatte, klang nur halb plausibel. Oder?
Oliver traute sie es durchaus zu, seine Ziele mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln anzuvisieren. Sicherlich war ihm aufgefallen, dass Stella ihn anhimmelte - wenn diese Information denn korrekt war - und gewiss war er der Typ, das auszunutzen. Und dass Stella sich darauf einließ, erschien ihr zwar idiotisch, aber fraglos glaubwürdig. Frauen taten die irrsinnigsten Dinge, wenn sie verliebt waren.
Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte es nicht für bare Münze nehmen, dass Oliver all das inszeniert hatte, nur um sie loszuwerden. Oder hatte er wirklich ein solch gewaltiges Ego? Oder litt, ganz im Gegenteil, sein Ego, wenn er sich übergangen fühlte?
Wie war das, wenn sie mit ihm zusammenarbeitete?
Gut möglich.
Irene erinnerte sich an mehrere Vorfälle, bei denen er sie mit der Aufforderung weggeschickt hatte, eine Arbeit erneut anders zu erledigen und ihn in Zukunft erst zu fragen, bevor sie eigenmächtig Arbeitsabläufe änderte.
Eigenmächtig.
Genau. Sie erinnerte sich an dieses Wort, weil sie es so lange nicht mehr gehört hatte.
Okay, wenn es das war, könnte sie sich darauf einstellen. Ihr Ex-Mann hatte ganz ähnlich getickt. Doch wie passte Leons Verschwinden ins Bild? Sie spürte wieder den Kloß im Hals.
Und dann die Geschichte mit den Schlüsseln.
Dieser Kommissar hatte ihr gezeigt, dass die Unordnung im Büro nicht auf einen echten Überfall oder Einbruch zurückzuführen war. Oliver hätte die Möglichkeit gehabt. Doch wozu?
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Holzminden
Freitag, 4. November 2011
gegen 15.00 Uhr
35
Nachdem Kofi
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