Nur ein Katzensprung
Mega-Gau. Andererseits, war es richtig, wenn alle sich nach einem Irren richteten, sich von ihm einschränken ließen? Konnte man nicht einfach dafür sorgen, dass die Kinder behütet wurden?
Und wenn der Typ, ganz unauffällig, im Publikum saß, wenn er ein Kind wegholte, das, zum Beispiel, zur Toilette ging? Anna bekam eine Gänsehaut.
Jeder Mensch, der ihr auf der Straße begegnete, im Fahrstuhl oder in ihrem Laden, konnte der Psychopath sein. Oder auch jede? Wäre eine Frau dazu in der Lage?
Anna sagte: „Kim hat sich so sehr darauf gefreut. Wann willst du es ihr sagen?“
„Sie wollen es verschieben.“
„Verschieben? Sie nennen es verschieben, meinen aber ausfallen lassen, oder? Auf wann denn?“
Irene ging zur Küchenzeile und goss zwei Tassen Kaffee ein. „Auf danach, was immer das heißen soll.“
„Man darf gar nicht darüber nachdenken. Was ist, wenn es nie zu Ende geht? Wenn als Nächstes die tote Emma gefunden wird und dafür ein anderes Kind verschwindet und danach wieder eines und noch eines? Was ist, wenn die Polizei den nie findet? Wenn er unaufhaltsam weitermacht?“ Ihre Stimme wurde ständig leiser.
Irene setzte den Gedanken fort. „Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis es Kim trifft.“
Anna legte ihr einen Arm um die Schulter. „Daran darfst du nicht einmal denken. Die Polizei ist ihm auf den Fersen, da bin ich sicher. Die verraten uns bloß nicht alles.“
„Auf mich wirken die etwas unkoordiniert.“
„Einer von ihnen hat Kim heute nach Hause gebracht.“
Irene erschrak. „Wieso? Befand sie sich in Gefahr?“
„Nein, überhaupt nicht.“ Anna informierte Irene kurz über den Vorfall in der Schule.
Nachdem der Kaffee durchgeblubbert war, setzten sich die beiden Frauen an den Küchentisch. Zuerst schwiegen sie sich an, jede in ihre Gedanken versunken. Dann begann Anna, von Kofi zu erzählen. Von seinen braunen Augen, seinen erstaunlich weißen Handflächen, die er immer offen nach oben hielt, wenn er etwas beteuerte, und von seinem warmen Lächeln, das an den Augen begann und sich über das ganze Gesicht ausbreitete, bis seine strahlend weißen Zähne ihr entgegenleuchteten.
Irene musterte das Erscheinungsbild ihrer Freundin, dann sagte sie: „Du bist verliebt.“
„Ich doch nicht. Er ist viel jünger als ich.“
„Wie viel denn?“
„Zwei oder drei Jahre mindestens.“
„Unmöglich, das sehe ich ein. Schlag ihn dir aus dem Kopf. Der ist ja noch ein Kind, im Vergleich zu dir.“
Anna schaute sie verblüfft an.
„Guck nicht so. Das war ein Scherz. Anna, zwei Jahre sind völlig unerheblich.“
„Was du immer redest. Ich bin überhaupt nicht verliebt, höchstens ein kleines bisschen verknallt. Wie sieht es denn mit Leon aus?“
„Lenk nicht ab. Du könntest mal wieder einen Liebhaber gebrauchen.“
„Liebhaber, wie das klingt. Ich bin keine fünfzigjährige Witwe auf Kur. Weißt du etwas über Leon? Wie läuft es in der Firma?“
„Es gibt nichts Neues, gar nichts. Leon ist wie vom Erdboden verschluckt. Das Geschäft läuft mehr als mau. Ohne Leon fehlt der Drive.“ Irene seufzte. „Außerdem ist die Stimmung ziemlich auf dem Tiefpunkt. Ich bin so froh, dass jetzt erst einmal Wochenende ist.“
„Leon ist eben die Triebfeder, es ist seine Firma, seine Idee, sein Leben.“
Anna beobachtete sie, sagte aber nichts.
„Die Leute sind so undankbar. Oliver und Stella wollen @dospasos schon unter sich aufteilen. Stell dir das vor. Kaum ist er ein paar Tage nicht da, streiten sie sich, wer Chef wird. Er hat sie erst vor zehn Monaten als Partner aufgenommen, und nun das.“
„So ganz uneigennützig war das nicht. Hatte er sich nicht etwas übernommen mit dem Kauf und dem Umbau des Katzentorhauses?“
„Ach was, er hätte sowieso Partner gebraucht. Allein ist das gar nicht zu stemmen.“
Anna wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. In ihren Augen war Leon ein Arsch, ein geldgeiler, aalglatter Wichser, der ununterbrochen und ausschließlich und andauernd an seinen eigenen Vorteil dachte. Außerdem sah er kacke aus.
Allerdings hatten sie das alles schon mehr als einmal diskutiert, wobei Anna andere Wörter verwendet hatte, um ihren Eindruck von Leon wiederzugeben. Irene hatte sich nie darauf eingelassen, ihn und seine Handlungen auch nur ein einziges Mal mit Annas Augen zu betrachten. Sie beschloss, das Thema zu verschieben. „Hast du denn diese Lagerhalle endlich verkauft?“
„Ach was, die wollen erst einen Termin bei Leon, weil es angeblich
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