Nur ein Kuss von dir
Veronica. Weißt du, wie viel Zeit dir bleibt, bis das passiert?«
»Nein«, antwortete ich unglücklich.
»Und du kannst sowieso niemals sicher sein, dass du sie, wenn – oder falls – du sie findest, überreden kannst zu helfen.«
»Ich weiß.«
Wieder schwieg sie kurz, während sie einen großen Laster überholte, der sich auf der langsamen Spur abquälte. »Verdammt, jetzt fängt es an zu regnen«, knurrte sie leise. »Ich hasse es, bei Regen zu fahren.«
»Meinst du wirklich, ich soll sie alle umbringen?«
»Erinnerst du dich, was du mir von deiner Praktikumswoche erzählt hast? Mit dem kleinen Hund?«
Natürlich erinnerte ich mich. Ich erinnerte mich an seine sanften Augen, seine leckende Zunge, seine schrecklichen Verletzungen. Und ich erinnerte mich ganz deutlich an das, was der Tierarzt mir an diesem Tag gesagt hatte. »Wir können das Leiden beenden, manchmal ist das humaner. Nur noch zu existieren, ist nicht dasselbe wie zu leben. Wir müssen wissen, wann wir dieses Urteil zu fällen haben.« Und als ich mich daran erinnerte, wusste ich, was zu tun war. Und ich wusste, dass weiteres Aufschieben grausam war.
Es war an der Zeit, Callum gehen zu lassen.
18. Wahrheit
Die Fahrt nach London zog sich hin. Ich wollte dringend mit Callum sprechen, noch ein paar wenige Momente mit ihm gemeinsam haben, jetzt, wo ich meine Entscheidung gefällt hatte. Ich wusste, es war die richtige Lösung, doch ich wollte noch eine Stunde oben auf der Kuppel haben – als letzte Gelegenheit, ihn noch einmal fest in den Armen halten zu können, bevor …
Jedes Mal, wenn ich daran dachte, was ich als Nächstes zu tun hatte, spürte ich Panik in mir hochsteigen. Ich beobachtete das Hin und Her der Scheibenwischer im niederprasselnden Regen und nahm nichts mehr außer meinem Schmerz wahr.
Grace blieb still. Sie wusste, dass ich nicht in der Situation war, mich zu unterhalten, und sie musste sich auf das Fahren konzentrieren.
Als wir schließlich das Ende der Autobahn erreichten, fragte sie: »Gehst du jetzt direkt in die Stadt, um ihnen deine Entscheidung mitzuteilen?«
Ich nickte. »Ja, ich denke, das muss ich. Du hast recht. Es ist grausam zu warten. Ich muss ihnen mitteilen, dass ich helfen werde, und wir müssen planen, wie und wo wir es machen werden.«
»Sprichst du mit Veronica?«
»Ich rufe sie später an. Erst will ich mit Callum reden, und er kann es dann den anderen sagen. Es scheint, dass die meisten sich gut an sie erinnern. Callum und Catherine waren die Einzigen, die erst dann zu Versunkenen wurden, als sie bereits entkommen war.«
»Also wirst du es nicht schon heute machen?« Grace ließ die Frage in der Luft hängen.
Ich schüttelte die Kopf, und die Tränen stiegen schon wieder hoch. »Nicht heute. Ich brauch noch ein bisschen.«
»Na gut. Ich bringe dich zum Bahnhof von Kew, dann kannst du von da aus die U-Bahn nehmen.«
»Ist das denn für dich in Ordnung?«
»Kein Problem, und besonders nicht jetzt, wo der Regen aufgehört hat.« Sie lächelte mich kurz an. Die Wetterfront lag hinter uns, und alles um uns herum sah jetzt wie frisch gewaschen aus, als die Sonne wieder durch die Wolken brach. Vorsichtig bewältigte Grace den riesigen Kreisel an der Anschlussstelle der Autobahn und fuhr in Richtung Kew weiter. Kurz darauf hielt sie schon vor dem Bahnhof.
»Ich danke dir so sehr, Grace«, fing ich mit kratziger Stimme an. »Ich weiß nicht, wie ich das ohne dich geschafft hätte.«
»Jederzeit wieder.« Sie umarmte mich schnell. »Rufst du mich später an, ja? Und hältst mich auf dem Laufenden? Ich bin jetzt zu Hause und packe für morgen, du kannst mich also immer erreichen.«
»Ist gut.« Ich hielt sie einen Moment fest und stieg dann schnell aus, damit sie die Tränen auf meinen Wangen nicht sehen konnte.
Im Bahnhof sah ich mich nach einer ruhigen Ecke um, wo ich mich hinsetzen und Callum rufen konnte. Ich musste ihm von meiner Entscheidung erzählen, doch das alles in Worte zu fassen, würde die ganzen Überlegungen so real werden lassen, unabänderlich und zu einem Eingeständnis der Niederlage. Da gerade ein Zug einfuhr, stieg ich direkt ein und sagte mir, dass ich später mehr Zeit für Callum hätte. Aber ich wusste, dass das feige war, und ich wusste auch, dass ich stark sein musste. Also flitzte ich schnell wieder nach draußen, ehe sich die Türen schlossen, und suchte mir die ruhigste Bank auf dem Bahnsteig.
Nachdem ich tief Luft geholt hatte, rief ich seinen Namen, während
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