Nur ein Kuss von dir
Uhr und dann auf den U-Bahn-Plan oben an der Wand des Wagens. Ich konnte etwas früher aussteigen, ein bisschen Abdeckcreme kaufen und es trotzdem noch schaffen, innerhalb der Eintrittszeit in die Kathedrale zu kommen. Ich fuhr mit der District-Line, und da war es ideal, im Blackfriars-Bahnhof auszusteigen. Dort in der Nähe gab es bestimmt einen Drogeriemarkt oder so was. Und dann war es nur noch ein Weg von fünf Minuten den Hügel hinauf.
Nachdem das geklärt war, lehnte ich mich zurück und versuchte, an nichts zu denken. Denken half nicht. Ich musste mich auf meinen Instinkt verlassen. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich die Landschaft betrachtete, aber innerhalb kürzester Zeit tauchte der Zug in den Untergrund. Dann fing ich an, darüber nachzudenken, ob ich mich auf dem Heimweg wohl fühlen würde, wenn alles vorbei war, wenn der, den ich liebte, gegangen war. Ehe ich mich versah, stellte ich mir vor, wie Max mich tröstete, wie er mich fest in den Armen hielt, während ich um Callum trauerte. Das dauerte nur eine Sekunde, doch ich war völlig entsetzt über mich. Wie konnte ich dermaßen gefühllos sein? Vielleicht, weil ich insgeheim Max wollte? Sagte mir mein Unterbewusstsein, was ich tun sollte? Ich stützte den Kopf in die Hände und starrte blicklos auf den abgewetzten Boden, während ich versuchte, meine Motive zu ergründen.
Nein, entschied ich, und setzte mich wieder aufrecht hin. Ich würde die Versunkenen eindeutig aus den richtigen Gründen erlösen, nicht, um mir das Leben zu erleichtern. Das war nur ein kurzer Tagtraum gewesen, nicht mehr.
Ich nahm eine liegen gebliebene Zeitung auf, um mit dem neuesten Promiklatsch die Bilder aus meinem Kopf zu bekommen, aber es half nichts. Die Artikel zu den Nachrichten ebenso wenig. Von den verschiedenen Katastrophen rund um die Welt zu lesen, war genauso frustrierend. Ich musste diese Katastrophen einfach mit der vergleichen, die ich im Begriff war zu verursachen, wenn zweihundert Leute tot in der Themse auftauchen würden. Welche Schlagzeilen gäbe es wohl danach? Oder würden sie alles vertuschen? Niemand würde erklären können, was da passiert war, und so wäre es einfacher, so zu tun, als wäre nichts passiert.
Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich fast die Durchsage verpasst hätte.
»Wegen eines Personenschadens auf der Strecke fährt dieser Zug nur bis Temple. Alle Fahrgäste bitte in Temple umsteigen.«
Unter den Passagieren machte sich Ärger breit. Einige schimpften, andere seufzten schwer, und alle Auren wurden rot oder violett. Ich blickte auf den Streckenplan. Temple war die letzte Haltestelle vor Blackfriars, und ich wusste, dass ich ziemlich einfach auf dem Embankment am Ufer entlanggehen konnte. Ich müsste nur etwas schneller gehen.
Als der Zug einfuhr, sah ich zu, dass ich bereits an der Tür stand und bereit war, vor dem allgemeinen Ansturm auf die Treppe ans Tageslicht zu kommen. Glücklicherweise hielt mein Wagen auch tatsächlich neben der Treppe. In kürzester Zeit war ich im Freien und ging schnell die belebte Straße lang, die parallel zum Nordufer verlief. Hier hatte es erst vor kurzem aufgehört zu regnen, das Pflaster war immer noch glatt, und ich konnte sehen, dass Flut herrschte und die Themse hoch stand. Ich schauderte bei der Vorstellung, da hineingeworfen zu werden – selbst an einem so warmen Sommertag.
Ich war noch bei dem Versuch, diesen Gedanken zu verdrängen, als ich beinahe mit einem Paar zusammengestoßen wäre, das aus dem kunstvoll geschmiedeten Eingangstor kam. Ich wollte unbedingt noch Make-up kaufen und versuchte, die beiden zu überholen. Sie waren in eine lebhafte Diskussion vertieft und es ging nur langsam weiter – zu langsam. Ich musste schneller gehen, weil ich nicht ankommen wollte, bevor der Zugang zur Kuppel geschlossen wurde. Meine Probleme beschäftigten mich so sehr, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich die Stimmen erkannte.
»Hör mal, wenn sie sagen, dass das die Abmachung ist, dann musst du damit auch leben. Dad hat immer gesagt, dass es keinen Sinn hat zu versuchen, mit Juristen zu streiten.«
Ich war so überrascht, dass ich auf der Stelle stehen blieb und dann ein paar Schritte rannte, um sie wieder einzuholen. Ich konnte nicht begreifen, wie das möglich sein konnte.
»Also, du hast dir nicht gerade einen Gefallen getan. Das kann keine Überraschung sein.« Seine rote Aura passte zum verärgerten Tonfall.
»Das musst du gerade sagen«, fauchte die junge
Weitere Kostenlose Bücher