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Freundin, was es mit diesem Bild auf sich hat?“, schaltet sich der Senior wieder ein – bevormundend und von oben herab. Es fehlt nur noch, dass er seinem Sohn die Haare verwuschelt und mir gönnerhaft ein Karamellbonbon anbietet.
Markus mault zwar, fügt sich aber, und die kleine Gruppe verlässt den Raum. Wiesenthal führt mich hinaus auf eine kleine angrenzende Terrasse. Als hätte er dies längst geplant, stehen dort auf einem schmucken Tisch verschiedene Getränke bereit; darüber prangt ein Sonnenschirm von enormen Ausmaßen und spendet Schatten. Er bittet mich, Platz zu nehmen, und setzt sich dann auf den Stuhl mir gegenüber.
„ Was Sie eben gesehen haben, ist ein Original. In meiner Sammlung befinden sich keine Kopien. Wenn ich das Original nicht bekommen kann, dann verzichte ich eben. Aber ich bekomme immer das Original.“ Oh Himmel, das scheint mir ein tolles Gespräch zu werden. Er sieht mir durchdringend in die Augen und ich bin mir nicht sicher, welche Reaktion er von mir erwartet. Ehrfurcht? Respekt? Begeisterung? Euphorie?
Ich entscheide mich vorerst für ein vorsichtiges Lächeln und nicke zustimmend mit dem Kopf. Anscheinend ist er zufrieden mit meiner Reaktion und fährt fort.
„ Wie Sie wissen, sammelt meine Familie alles, was mit den Nibelungen in Verbindung gebracht wird. Es ist mir gelungen, die bedeutendsten Beweisstücke ihrer Existenz zu sichern. Ich habe die frühsten schriftlichen Aufzeichnungen, ich habe Waffen, deren Herkunft einwandfrei bestimmt werden konnte, und ich habe auch dieses Bild. Es wird als das erste auf Leinwand gemalte Zeugnis der Nibelungen angesehen. Es gab auch andere, frühere künstlerische Darstellungen, Kupferstiche, bemaltes Porzellan, Wandteppiche, Sie wissen schon. Aber dieses Bild ist das erste Ölgemälde auf Leinwand, das eine Episode aus der Geschichte der Nibelungen abbildet.“
„ Aber die Geschichte der Nibelungen endet doch mit dem Tod Siegfrieds im Wald. Als er von Hagen erstochen wird“, unterbreche ich ihn. „Diese Szene, dass sich Kriemhild über seinen Leichnam beugt, ist doch eher so etwas wie die Fortsetzung der Geschichte, oder?“
Er sieht mich mit großen Augen an. „Meine liebe Hilda, Sie scheinen sich – mit Verlaub gesagt – nicht besonders gut in der Geschichte auszukennen!“
„ Naja, ich habe gestern Abend die Aufführung gesehen, aber sonst weiß ich nichts“, gebe ich schulterzuckend zu.
Er legt den Kopf in den Nacken und lacht schallend. „Und ich dachte, Sie seien eine Expertin auf diesem Gebiet! Dann passen Sie mal auf, ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen.“ Jetzt ist er wieder ganz der respektvolle Gentleman, keine Spur mehr von dem herablassenden Snob, der er vorhin noch war.
Die Geschichte, die mich gestern gefesselt hat, geht noch weiter? Das klingt super! Ein wohliger Schauer durchrieselt mich und ich lehne mich behaglich in dem bequemen Terrassen-Sesselchen zurück, während Wiesenthal mir den zweiten Teil der Geschichte der Nibelungen erzählt.
Der beginnt mit meiner Traum-Szene. Nach dem hinterhältigen Mord an Siegfried bringen Gunther und Hagen den Leichnam zurück ins Schloss, wo sie ihn vor Kriemhilds Tür auf dem Boden ablegen. Als Kriemhild ihren toten Gatten findet, ist sie außer sich vor Entsetzen.
Sie ahnt sofort, dass er einem Verrat zum Opfer gefallen ist, aber ihr Bruder beteuert, dass es sich um einen tragischen Jagdunfall gehandelt habe. Sie bleibt misstrauisch und verlangt die ‚Bahrprobe‘.
Siegfrieds Leichnam wird aufgebahrt und nacheinander muss der gesamte Hofstaat daran vorbei gehen. Als Hagen von Tronje in die Nähe der Leiche kommt, beginnt die Wunde zu bluten. Somit ist für Kriemhild klar, dass Hagen der Mörder ihres Mannes ist, doch ihr Wort steht gegen das des Königs.
Niemand glaubt ihr und sie muss sich eingestehen, dass sie zwar die Wahrheit kennt, im Moment aber nichts tun kann, um ihren Mann zu rächen. Sie schwört sich selbst, dass Hagen nicht ungeschoren davon kommen soll.
Kriemhild bleibt weiterhin am Burgunder-Hof in Worms – im Königreich Xanten hat sie nach Siegfrieds Tod alle Machtansprüche verloren. Sie hält sich stets allein in ihrer Kammer auf, niemand bekommt sie zu sehen.
Selbst die wenig später eintreffende Nachricht vom Tod ihres Sohnes erschüttert sie nicht mehr, sie ist kaum noch dazu fähig, Gefühle irgendwelcher Art zu empfinden.
Es entbrennt eine heiße Debatte um den Schatz der Nibelungen, jenen berühmten Schatz, den
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