Nur eine Ohrfeige (German Edition)
jetzt fröhlich auf die Xylophonstäbe eindrosch. Mit einem breiten Lächeln drehte er sich wieder zu Aisha um. »Er scheint sich prächtig zu amüsieren.«
»Genau wie seine Mutter.« Die Frau hatte ein Bier in der Hand und lachte mit ihren Freunden. Auf einmal schien der ganze Frust und Ärger des Tages wie weggeblasen.
Aisha berührte Hectors Hand, er schloss seine Finger um ihre.
»Es war toll, die Kinder in Bangkok zu sehen«, sagte sie wehmütig. »Jeden Morgen liefen sie während meines kleinen Spaziergangsan mir vorbei. Ganz herausgeputzt in ihren Schuluniformen, Mädchen und Jungen, und lachten und schwenkten ihre Schultaschen durch die Luft. Als gehörten die Straßen ihnen. Aber überhaupt nicht bedrohlich, nicht so wie die Kids, die bei uns durch die Straßen ziehen. Sie sahen einfach glücklich und zufrieden aus, als fühlten sie sich dort sicher und zu Hause.«
Der Junge nuckelte inzwischen gierig an einer Scheibe Mango, die der Bandleader ihm gegeben hatte.
»In Griechenland und Sizilien war es genauso, weißt du noch?«, fuhr sie fort. »Da gehörte die Straße auch den Kindern.« Sie trank einen Schluck Bier und schwelgte in Erinnerungen an die Zeit am Mittelmeer. Es war lange her, noch vor ihrer Heirat – ihre erste gemeinsame Reise nach Europa. Sie waren noch so jung gewesen. Auch damals hatten sie sich gestritten. Sie erinnerte sich an eine schlimme Auseinandersetzung auf Santorin. Zurück in Athen hatte Hectors Cousin Perikles ihnen erzählt, auf Santorin würde sich jeder streiten. Schuld daran seien die
Brakolaka
, die Geister der Vampire, die keine glücklich verliebten Paare duldeten.
»Griechenland hat sich bestimmt total verändert. Wir müssen unbedingt bald mal mit den Kindern hin. Wirklich.«
In dem Augenblick fing Hector an zu weinen. Keine leisen, dezenten Tränen, sondern ein plötzliches heftiges Schluchzen. Er zitterte am ganzen Körper, dicke Tränen liefen ihm übers Gesicht und tropften auf sein Hemd. Aisha war erschüttert und brachte kein Wort heraus. Hector weinte nie. Er drückte ihre Hand, so fest, dass sie befürchtete, ihre Finger könnten im nächsten Moment brechen. Die Kellnerin war auf dem Weg zu ihrem Tisch, blieb aber erschrocken stehen und starrte Hector mit offenem Mund an. Die beiden französischen Pärchen waren verstummt, die Frauen sahen in ihre Speisekarten, und die Männer zündeten sich Zigaretten an und schauten über das Geländer auf die Straße.
Es war eine peinliche Situation. Aisha zog die Hand weg. »Hector, was ist denn, was hast du?«
Er war unfähig, etwas zu sagen. Sein Schluchzen war noch lauterund ungehemmter geworden. Er atmete schwer und unregelmäßig, seine Augen und Nase waren rot, das Gesicht verzerrt. Sie nahm eine Serviette und wischte ihm den Rotz ab. Das Blut in ihren Adern erstarrte zu Eis – zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie diese Metapher, empfand sie als realistisch: Sie war vollkommen emotionslos, fühlte nichts als Kälte. Sie hatte ihren Mann noch nie weinen sehen. Und ganz sicher hätte sie nie damit gerechnet, dass er vor all diesen Leuten aus Kummer und Schmerz seinen Stolz, seine Würde vergessen konnte. Überhaupt hatte sie noch nie einen Mann so weinen gesehen, oder vielleicht doch, ein einziges Mal, vor langer Zeit, eine flüchtige, aber eindringliche Erinnerung an ihren Vater. Er hatte in Unterhose und Unterhemd auf dem Bett gesessen und geheult wie ein Wolf. Ihre Mutter hatte Ravi und ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wie ein rasendes Tier hatte ihr Vater gewirkt. Hectors Weinen war kein Ausdruck von Schwäche. Er war ein gebrochener, verzweifelter Mann, aber immer noch ein Mann. Wie oft hatte sie Frauen hemmungslos weinen, sich ihrem Kummer hingeben sehen. Sie selbst eingeschlossen. Und jedes Mal hatte sie sie ermutigt, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Aber das hier war etwas anderes. Jedes Schluchzen entfernte Hector ein Stück von ihr. Sie wollte, dass er aufhörte. Sie wusste, warum sie sich an den unerklärlichen Gefühlsausbruch ihres Vaters erinnerte, den ihre Eltern ihr gegenüber nie mehr erwähnt hatten. Genau wie damals hatte sie Angst. Sie hatte solche Angst, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Alles, was sie fühlte, war die Angst, dass danach alles anders sein würde. Nichts würde mehr so sein wie vorher.
Bis zu dem Zeitpunkt, als sie mit Hector zurück im Hotel war, fühlte sich alles unwirklich an. Die Zeit erschien ihr endlos. Irgendwie hatte sie die
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