Nur eine Ohrfeige (German Edition)
so überreguliert? In solchen Momenten vermisste sie die Anarchie und Desorganisation des Balkans. Sie brauchte dringend eine Zigarette. Sich jetzt eine anzustecken, wäre offener Ungehorsam. Sie merkte, dass sie nichts um sie herum wirklich wahrnahm. Die Gebäude, die anderen Fahrzeuge, den Fahrer, den Himmel, die Stadt. Es kam ihr vor, als stünde sie unter Drogen, nur dass sie keinen Kick dabei empfand. Sie fühlte sich, als würde sie schweben, unfähig irgendeine Entscheidung zu treffen.
»Wo möchten Sie langfahren?«
Sie sah seine Augen im Rückspiegel. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Gereizt fuhr sie ihn an: »Sie sind doch der Fahrer, Sie müssen doch wissen, wo wir am besten langfahren. Dafür werden Sie schließlich bezahlt, oder?«
Seine Miene verdunkelte sich, und er konzentrierte sich auf die Straße. Er war jung, wahrscheinlich jünger als Rhys, seine Haut hatte die Farbe von gerösteten Kastanien, und die großen, eindrucksvollen Augen lagen tief in seinem kantigen Gesicht. Sein drahtiger, pubertärer Bart sah aus wie angeklebt. Warum tust du dir das an, wollte sie ihn fragen, warum machst du dich absichtlich hässlich? Warum verlangt dein Gott das von dir? Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich. Eigentlich war sie zu Taxifahrern immer sehr höflich. In der Regel waren es Immigranten, und dadurch, dass sie sie respektvoll behandelte, meinte sie, sich von der schweigendenMasse rassistischer Australier abzugrenzen, einer Welt, die – so weit sie das beurteilen konnte, zumal sie diese Welt gar nicht kannte – irgendwo hinter den gelben Linien existierte, die auf den Melbourner Verkehrsnetzplänen die Innenstadtzone markierten. Aber in diesem Moment empfand sie weder Höflichkeit noch Respekt. Leck mich, dachte sie, ignorantes fundamentalistisches Moslemschwein. Ihr kleiner Hassausbruch hatte etwas wohltuend Verbotenes.
»Tut mir leid, wenn ich unfreundlich war«, fing sie an, »aber ich bin etwas durch den Wind. Ich habe gerade erfahren, dass ich schwanger bin.«
Der junge Mann warf einen erneuten Blick auf sie, diesmal lächelte er. »Herzlichen Glückwunsch. Wie schön für Sie.«
»Finden Sie?«
Er guckte verwirrt und sah dann weg.
»Ich glaube nicht, dass ich es will. Ich bin nicht verheiratet, wissen Sie, und der Vater ist ungefähr halb so alt wie ich. Ich habe noch so viele Pläne. Allzu glücklich bin ich jedenfalls nicht darüber.« Ihr Blick war starr auf den Rückspiegel gerichtet.
Rede mit mir, du Scheißkerl.
Ruckartig schlängelte sich das Taxi über den verstopften South-Eastern Freeway. Bevor sie das Studio erreichten, bemerkte Anouk, dass sie rot angelaufen war. Erst schämte sie sich, dann wurde sie wütend. Wer zum Teufel war der Kerl, dass er sich ein Urteil über sie erlauben konnte?
Am Ziel angekommen beugte sie sich nach vorn. »Ich weiß, was Sie von mir denken.«
»Ich denke gar nichts.«
»Sie lügen«, zischte sie. »Ich weiß genau, was Sie von mir denken.« Die Giftigkeit ihrer Worte schockierte sie beide.
»Ihr Wechselgeld«, sagte er.
»Behalten Sie es«, murmelte sie.
Er sah sie an, immer noch ohne zu lächeln. »Bitte glauben Sie nicht zu wissen, was ich von Ihnen denke. Wir kennen uns nicht.«
Während des Drehbuch-Meetings sagte sie kein Wort. Sie hörte kaum zu. Als es vorbei war, rief sie Rhys an und hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox, dass alles in Ordnung sei, der Arzt habe gesagt, es sei nur eine leichte Magen-Darm-Geschichte, und sie würde die nächsten Nächte gern allein schlafen. Sie war erleichtert, nicht mit ihm sprechen zu müssen. Der Taxifahrer, der sie nach Hause fuhr, war ein älterer Grieche, und diesmal war sie besonders lieb und höflich. Kaum, dass sie in der Wohnung war, rief sie Aisha an.
»Hast du morgen Zeit?«
»Donnerstag ist immer schlecht. Da arbeite ich bis acht.«
»Freitag?«
»Worum geht es denn?«
»Ich brauche deinen Rat.«
»Wegen Rhys?«
»Freitag?«
Aisha lachte. Wieder war sie es, die Anouk zum ersten Mal an diesem Tag auf den Boden holte.
»Lass uns in der Stadt treffen. Irgendwo am Fluss vielleicht. Southbank oder Docklands?«
»Freitagabend? Vergiss es. Viel zu voll.«
»Was ist mit
Doctor Martins
? Da kann man draußen sitzen.«
»Super. Aber bist du sicher, dass dir das keine Umstände macht? Ich kann auch zu euch kommen.«
»Hector kann freitags früher Schluss machen. Dann kann er auch die Kinder abholen.«
Anouk befühlte ihren Bauch. Würde ihr Leben jetzt auch so
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