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Nur eine Ohrfeige (German Edition)

Nur eine Ohrfeige (German Edition)

Titel: Nur eine Ohrfeige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christos Tsiolkas
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schonungslos und unerschrocken zu sein. Aber ihre Mutter warverbittert gewesen, sie hatte sich nicht damit abfinden können, zu nichts anderem Talent zu haben, als Mutter zu sein. Bis an ihr Lebensende hatte sie gewettert, wie unfair das Schicksal zu ihr gewesen sei. Nein, sie alle, alle Frauen in ihrer Familie, sie hätten alle als Männer auf die Welt kommen sollen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, den Wunsch nach einem Kind zu verspüren, das Leben, das in ihrem Schoß heranwuchs, als Erfüllung zu sehen. Tut mir leid, flüsterte sie, es geht nicht. Entsetzt dachte sie daran, wie unfreundlich sie am Nachmittag zu dem jungen Taxifahrer gewesen war. Es war nicht seine Andersartigkeit gewesen, die sie gestört hatte: sein Akzent, sein Bart, sein unbarmherziger Gott. Damit hatte es nicht das Geringste zu tun. Was sie so beschämt hatte, war, dass er kein bisschen anders war. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er für die ganze Welt sprach.
     
    Als sie am Freitagmorgen aufwachte, konnte sie sich noch gut an ihren Traum erinnern. Sie lief neben Jean-Michel her, er hielt ihre Hand, und sein graues Haar war ganz kurz geschoren, wie bei einem Soldaten. Ihr gefiel das, und sie wollte ihm sagen, wie froh sie sei, dass er endlich ihren Rat befolgt und es abgeschnitten habe. Aber dann merkte sie, dass sie nicht sprechen konnte. Sie liefen durch eine kalte, ihr unbekannte Stadtlandschaft. Ungefähr so, wie sie sich Zagreb vorgestellt hatte, bevor sie dort war. Jean-Michel hielt ihre Hand fest, und sie fühlte sich sicher. Es war niemand sonst in der Stadt. Sie war schwanger und hatte einen riesigen Bauch. Sie war glücklich.
    Sie duschte und zog sich schnell an. Es war lange her, dass sie das letzte Mal an Jean-Michel gedacht hatte. Schon damals war seine Brust schlaffer geworden, und auf seinem dicker werdenden Bauch sprossen graue Haare. Es war immer klar gewesen, dass er schlecht altern würde, und inzwischen war er wahrscheinlich ein alter Mann. Sie wurde rot, als ihr einfiel, dass er, als sie ein Liebespaar waren, so alt gewesen war wie sie jetzt, und sie selbst war noch jünger gewesen als Rhys. Unhörbar murmelte sie eine Entschuldigungins Morgenlicht. Vielleicht waren es nicht nur Feigheit und Angst um seine Stellung gewesen, die Jean-Michel daran gehindert hatten, sich von seiner Frau zu trennen und die leidenschaftliche Affäre mit seiner Studentin weiterzuführen. Vielleicht war er sich der Rücksichtslosigkeit des Alterns nur allzu bewusst geworden und hatte den Moment kommen sehen, wenn sie ihn nicht mehr attraktiv finden würde. Sie hatte diese Weitsicht damals nicht besessen und stattdessen ihren Kummer überwunden, indem sie Jean-Michel für das, was sie als seine Schwäche auslegte, zuerst hasste und dann bemitleidete.
    Bevor sie die Wohnung verließ, musterte sie sich noch einmal von oben bis unten. Sie war groß, ja, sie hatte Ausstrahlung, und ihr Körper war noch fest und geschmeidig. Aber sie war nicht mehr die Jüngste. In zwanzig Jahren war sie dreiundsechzig. Und Rhys ein gut aussehender, attraktiver Vierundvierzigjähriger. Der Gedanke an ihren jungen Liebhaber zauberte ein zärtliches, verliebtes Lächeln auf ihre Lippen. Sie verspürte ein starkes Verlangen. War das die Schwangerschaft, dieses ständige erotische Bewusstsein, dieses sich hilflos dem Körper hingeben?
     
    Aisha und Rosie saßen schon im Biergarten. Anouk küsste sie beide zur Begrüßung und umarmte auch Rosie. Sie waren jetzt seit mehr als einer Generation befreundet. Und sie waren schon immer verschieden gewesen. Sie wollte sich weder dem Groll noch irgendwelchen boshaften Gedanken gegenüber einer alten Freundin hingeben. Was sie miteinander verband, war sicher nicht ihre gemeinsame Vergangenheit. Es war Aish. Das wussten sie beide. Auf dem Tisch stand eine offene Flasche Wein, aus der sich Anouk ein Glas einschenkte.
    »Ich wurde eben fast von drei kleinen Schlampen umgenietet, direkt hier vor der Tür.«
    »An der Ampel?«
    »Nein.« Anouk schüttelte den Kopf und lächelte. Rosie runzelte die Stirn, besorgt und neugierig. »Nicht im Auto. Auf dem Bürgersteig.Sie sind in mich reingerannt und einfach weitergelaufen, als existierte ich gar nicht.«
    »Wie alt?«, fragte Aisha.
    »Keine Ahnung. Die sahen aus wie Nutten, hätten aber auch sechzehn sein können. Wahrscheinlich waren sie zwölf.«
    »Wahrscheinlich existierst du in ihren Augen tatsächlich nicht. Keine von uns.« Aisha klang ein wenig resigniert.
    »Also,

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