Nur Engel fliegen hoeher
dich nicht meldest und wir uns nie wiederfinden würden.«
Sie nimmt ein Stück von der Mandarine, schiebt es sich halb in den Mund und nähert sich Jonas, als wollte sie ihn küssen. Er drückt seine Lippen auf ihren Mund. Der Saft rinnt ihnen über das Kinn. Lange liegen sie eng umschlungen, dann schlafen sie ein.
Es ist bereits dunkel, als sie erwachen. Draußen tänzeln Schneeflocken um eine Hoflaterne. Irgendwo in einer Nachbarwohnung wird »Am Fenster« von City gespielt. Julia geht ins Bad und kehrt die Scherben zusammen. Danach tastet sie sich mit einem um die Hüfte gewickelten Handtuch im Dunkeln nach vorn in die straßenseitige Werkstatt. Sie schiebt die vietnamesischen Reisstrohmatten vor dem Fenster zur Seite und blickt auf eine winterlich weiße Straße, auf der kein Auto fährt. Die hohen, peitschenartigen Laternen erleuchten die gegenüberliegende Straßenseite taghell. Die Schilder an der Bordsteinkante sind sogar von hier lesbar: »Halt Grenzgebiet!« Weiter links kreuzt eine Straße die Wollankstraße im rechten Winkel. Doch es ist nur eine Dreiviertelkreuzung, denn die Straße, die nach Westen führt, ist zugemauert. Wenige Meter hinter der Mauer fährt eine S-Bahn in den Bahnhof Wollankstraße ein. Die Fahrgäste sind deutlich zu sehen. Und doch leben sie in einer anderen Welt.
»Du sehnst dich nach Hause?« Jonas hat sie von hinten an den Schultern umfasst.
»Nein. Überhaupt nicht. Ich stelle mir nur vor, wie lange ein Mensch das schlucken kann, bis er es nicht mehr erträgt.«
Als sie wieder im Bett liegen, umschlingen sie sich so fest, als
wollten sie verhindern, dass irgendwer sie jemals wieder auseinanderreißt.
»Kann ich dir schreiben?«, flüstert Jonas.
»Mein Freund darf keinen Kontakt in den Osten haben oder müsste das melden.«
»Ich denke, du lebst in einem freien Land?«
»Er arbeitet im Sicherheitsbereich an der US-Botschaft in Ost-Berlin. Dort hat die Stasi den schönen Namen CIA.«
»Kann ich an deine Arbeitsstelle schreiben?«
»Ich studiere Kunstgeschichte an der FU. Da habe ich keine Postadresse. Aber ich kann dich doch anrufen...«
»Ich habe zu Hause kein Telefon.«
»Und auf deiner Arbeit?«
»In der Zeitungsredaktion dürfen wir keine Gespräche ins westliche Ausland führen. Außerdem fürchte ich, dass alles abgehört wird.«
»So what! Dann schließen wir uns hier ein und stehen nie wieder auf.«
»Julia? Ich glaube, ich bin ganz schön verknallt in dich.«
»Jonas, wir verrennen uns in etwas, aus dem wir vielleicht nur schwer wieder rauskommen.«
»Wenn wir es wollen, finden wir einen Ausweg. Wir sind beide stark.«
»Aber jeder lebt mit einem anderen Partner in einem anderen Land. Und dazwischen ist ein eiserner Vorhang.«
»Das Verbotene hat immer einen besonderen Reiz.«
»Wir kennen uns so gut wie gar nicht.«
»Wer hindert uns daran, dass wir uns kennenlernen?«
»Kennenlernen, hier? In einem Versteck neben der Mauer? Ständig auf der Hut vor irgendwelchen Spitzeln? No, Darling, da geht unsere Liebe drauf. Ich möchte mit dir bei Tageslicht Hand in Hand gehen. Ohne Angst haben zu müssen.«
»Lass uns ein Wochenende nach Rügen fahren.«
»Rügen? Glaubst du, da sind wir unbeobachtet? Als ich von Greifswald nach Saßnitz gefahren bin, haben sie dort im Hafen mein Auto halb auseinandergenommen. Das ist kein normaler Hafen. Das ist eine Festung aus Wachtürmen und Stacheldraht.«
»Nein, nicht nach Saßnitz. Ich kenne ein einsames Dorf ganz im Norden, an der Steilküste. Da kommt nicht mal ein Auto hin.«
»Aber sie lassen uns doch nicht in ein Hotel.«
»Ich kenne die Wirtin einer kleinen Fischerkneipe. Sie vermietet schwarz ein Zimmer unterm Dach. Dort können wir Hand in Hand am Meer spazieren gehen. Glaub mir, Julia, es ist ein Paradies.«
Am Sonntag um acht reißt sie der Wecker aus ihren Träumen.
»Julia, Liebste, du willst doch nicht etwa schon gehen?«
»Sorry. Fährst du mich zur Grenze? Ich habe meinem Freund gesagt, dass ich bei einer Freundin übernachte und zum Frühstück zurück bin. Wenn ich zu spät komme, telefoniert er mir hinterher. Marc darf auf keinen Fall erfahren, dass ich in Ost-Berlin war.«
»Hier, für dich ... diesen Zettel musst du gut verstecken. Darauf stehen meine Privatadresse und meine Telefonnummer in der Redaktion. Nur für Notfälle. Darunter die Adresse und Telefonnummer von Fred, wo wir gerade sind. Ganz unten stehen noch Adresse und Telefonnummer von unserem Rostocker Pfarrer. Das ist eine
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