Nur mit dir sind wir eine Familie
spätestens Mitte Februar nach Kasachstan reisen konnten. Am Schluss reichte sie ihnen eine Liste mit Sachen, die sie für die Reise besorgen mussten, und stellte ein paar abschließende Fragen zu eventuellen Änderungen ihrer Lebenssituation. Gott sei Dank übernahm Sean es, darauf zu antworten. Anschließend waren sie entlassen.
Wieder auf dem Parkplatz überkam Charlotte auf einmal ein mulmiges Gefühl. Die Vorstellung, in ein fremdes Land zu reisen und ein unbekanntes Kind zu adoptieren, machte ihr plötzlich Angst. Vielleicht war das Ganze ja doch keine so gute Idee …
„Sieht ganz so aus, als stünde uns bald ein richtiges Abenteuer bevor“, sagte Sean unternehmungslustig.
Seine gute Laune machte Charlotte wieder Mut. „Stimmt. Und zur Abwechslung hätte ich auch nichts dagegen einzuwenden“, antwortete sie, als sie in Seans Wagen stieg.
„Ich dachte, dir gefällt das ruhige Leben in Mayfair.“
„Ja, schon, aber in letzter Zeit war es mir fast schon zu ruhig“, gestand sie.
„Na, das wird sich in Kürze ändern, oder?“
Charlotte wusste sein Lächeln nicht recht zu deuten.
Ohne ihre Antwort abzuwarten, öffnete er ihr die Beifahrertür, ging zur Fahrerseite und stieg selbst ein. „Da wir gerade von Mayfair reden – ich vermute, du fährst jetzt sofort dorthin zurück?“, fragte er höflich.
Charlotte zögerte. Im Grunde genommen wollte sie nicht wirklich nach Hause. Sie hatte die Zeit mit Sean mehr genossen als irgendetwas anderes in den letzten sechs Monaten. Aber konnte sie ihm das sagen? „Stimmt, ich würde gern vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein“, antwortete sie daher schließlich, den Blick starr auf die Straße gerichtet.
„Okay, dann setze ich dich gleich bei deinem Wagen ab.“
Offensichtlich hatte er nicht vor, sie zum Bleiben zu überreden. Aber was hatte sie auch erwartet?
Als sie vor dem Stadthaus ankamen, stiegen sie beide aus. Charlotte dankte Sean höflich und stieg dann in ihr Auto. Zu ihrer Überraschung machte er jedoch keine Anstalten, ins Haus zu gehen, sondern blieb neben ihrem Wagen stehen. Seinem Stirnrunzeln nach zu urteilen, wollte er ihr noch etwas sagen. Sie kurbelte das Fenster herunter: „Ist noch etwas?“, fragte sie.
Sean bückte sich und sah sie an. „Ja. Ich finde, wir sollten uns in ein paar Tagen noch mal unterhalten, wenn es dir recht ist“, antwortete er. „Bis dahin werde ich mich schon mal um sämtliche Reisevorbereitungen kümmern.“
„Gut. Ich besorge in der Zwischenzeit alles, was wir mitnehmen müssen.“
„Ich kann dir dabei helfen, wenn du willst.“
Charlotte lag es auf der Zunge, sein Angebot abzulehnen, doch sie wollte nicht schon wieder für schlechte Stimmung zwischen ihnen sorgen. „Das wäre schön“, sagte sie deshalb und lächelte dankbar. „Ich werde die Liste mal durchsehen. Es gibt bestimmt viele Dinge, die du leichter in New Orleans auftreiben kannst als ich in Mayfair.“
„Dann telefonieren wir also in ein paar Tagen?“
„Gern. Wie du weißt, bin ich abends immer zu Hause, also ruf mich einfach an, wenn du Zeit hast.“
„Komm gut zurück und … Charlotte …?“ Er zögerte einen Moment. „Gib mir Bescheid, wenn du zu Hause bist, okay? Damit ich weiß, dass du gut angekommen bist.“
„Ach, das ist doch völlig überf…“, begann sie, stockte jedoch, als sie sein Stirnrunzeln sah. „Okay, ich rufe dich an, sobald ich zu Hause bin. Versprochen.“
Sean klopfte zum Abschied aufs Autodach und trat einen Schritt zurück.
Charlotte winkte ihm kurz zu, legte den Gang ein und fuhr den Wagen vom Bordstein. Sie fühlte sich auf einmal schrecklich einsam. Sean zurückzulassen, fiel ihr schwerer als gedacht.
In den letzten Stunden war er wieder der Mann gewesen, mit dem sie lange Zeit sehr glücklich gewesen war. Sie hatte sich ein zweites Mal in ihn verliebt, ohne etwas dagegen tun zu können. Nur die Gewissheit, dass er lediglich aus Pflichtbewusstsein so lieb zu ihr war, hatte sie davon abgehalten, eine Dummheit zu begehen.
Als sie an der ersten Kreuzung in den Rückspiegel sah, zuckte sie überrascht zusammen: Sean stand mitten auf der Straße und sah ihr hinterher. Er hatte einen ganz verlorenen Gesichtsausdruck.
Verwirrt richtete Charlotte den Blick wieder auf die Straße. Es sah so aus, als sei auch er traurig über ihre Abreise. Vielleicht hatte er ihre Gesellschaft ja ebenso sehr genossen wie sie seine. Ein tröstlicher Gedanke, der ihre Laune schlagartig hob.
Sie würde zu Hause
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