Nur Mut, liebe Ruth
weißt ja, wenn
irgend etwas ist, brauchst du nur zu rufen.“
„Ja, Mutti!“ Ruth gab ihrer
Mutter einen herzhaften Kuß, dann fragte sie plötzlich: „Sag mal, Mutti, meinst
du, daß zuviel Liebe schädlich sein könnte?“
Ganz verblüfft ließ sich Frau
Kleiber wieder auf die Bettkante sinken. „Wie meinst du denn das?“
„Nur so.“ Ruth bemühte sich,
die Worte zu finden, um auszudrücken, was ihr durch den Kopf gegangen war.
„Wenn Eltern ihre Kinder zu lieb haben“, sagte sie langsam, „dann werden sie
vielleicht nie erwachsen.“
Frau Kleiber lachte. „Ach wo.
Erwachsen wird man ganz von selber.“
Ruth sah sie zweifelnd an.
„Vielleicht doch nicht. Wenn Eltern ihre Kinder zu lieb haben, dann wollen sie
sie vielleicht immer klein behalten... ich meine, sie wissen vielleicht nicht,
daß sie es wollen. Aber sie behüten und verwöhnen ihr Kind vielleicht so, daß
es gar nicht erwachsen werden kann.“
„Das sind krause Gedanken“,
sagte Frau Kleiber und strich Ruth die zerzausten Löckchen aus der Stirn, „die
fallen einem so ein, wenn man in der Nacht geweckt wird. Aber am Tag merkt man
dann, daß das alles keine Hand und keinen Fuß hat. Gute Nacht, Liebling, es
wird höchste Zeit für uns zu schlafen. Wir wollen doch keine Gespenster sehen.“
Aber dann, als Ruth wieder
allein war, konnte sie doch nicht so schnell einschlafen, wie ihre Mutter es
gewünscht hätte, trotz der Tablette nicht.
Zum ersten Mal in ihrem Leben
fühlte sie sich von der Mutter unverstanden, und seltsamerweise war das nicht
einmal so ein unangenehmes Gefühl. Sie hatte eigene Gedanken, bei denen ihre
Mutter nicht mitkam, darauf konnte sie stolz sein, mehr noch darauf, daß sie
mit diesen Gedanken, dessen war sie jetzt fast sicher, auf dem richtigen Weg
war.
Ihre Eltern hatten sie zu sehr
geliebt, zu sehr verwöhnt und beschützt. Deshalb war sie solch ein Angsthase
geworden.
Sie erinnerte sich an
Begebenheiten, die sie schon längst vergessen glaubte, und sah sich als ganz
kleinen Putzel die ersten Schritte in die Welt tun.
Sobald sie nur ein bißchen
gelaufen war, hatten Vater und Mutter gerufen: „Halt! Paß auf! Gleich fällst du
hin!“ — Wenn ein fremder Hund schwanzwedelnd auf sie zugetapst war, hatte es
geheißen: „Rühr dich nicht! Faß ihn nicht an! Er könnte beißen!“ — Nie hatte
sie wie die anderen Kinder herumtoben dürfen, immer war sie sauber wie aus dem
Ei gepellt gewesen, und immer hatte sie auf ihre Frisur und auf ihre hübschen
Kleidchen aufpassen müssen. Es hatte ihr nichts ausgemacht, nein, im Gegenteil,
sie hatte sich ganz wohl dabei gefühlt. Aber ob es das Richtige gewesen war?
Bestimmt nicht.
Kein Wunder, daß Katrin, die so
früh hatte selbständig sein müssen, ein anderer Kerl war als sie, und erst
Leonore, die als eines von fünf Geschwistern aufgewachsen war. Olga allerdings,
die ewig Beleidigte, und Silvy Heinze, die Besserwisserin, hatten ihr bestimmt
nichts voraus. An denen konnte sie sich auf keinen Fall ein Beispiel nehmen.
Aber das wollte sie auch nicht. Sie wollte überhaupt nicht sein wie jemand
anders, sondern wie sie selber: eine tapfere, entschlossene,
verantwortungsbewußte Ruth. Und gleich morgen früh würde sie anfangen so zu
werden, indem sie erst einmal ihre Frisur änderte.
Mit diesem tröstlichen Vorsatz
schlief sie endlich ein.
Als Frau Kleiber am nächsten
Morgen in Ruths Zimmer kam, um sie zu frisieren, saß sie schon fix und fertig
vor dem Spiegel, lächelte sie spitzbübisch und doch ein klein wenig unsicher
an. „Na, wie gefalle ich dir?“
Die Mutter wußte nicht, was sie
sagen sollte.
„Steht mir doch gut?“ Ruth
hatte sich ihre Löckchen ausgebürstet, sich in die Stirne einen kleinen Pony
gekämmt und die schulterlangen Haare an beiden Seiten über den Ohren mit Spangen
zu Rattenschwänzen zusammengefaßt, die sie jetzt gerade um die Zeigefinger
drehte. „Und so viel praktischer!“
„Dein Scheitel sitzt schief.“
„Das kommt daher, weil ich
hinten keine Augen habe. Könntest du ihn mir richtig ziehen, Mutti?“
Frau Kleiber löste Ruths
Rattenschwänze und nahm die Bürste vor ihr von dem Toilettentisch. „Du hast so
hübsches Haar“, sagte sie zögernd und begann zu bürsten, „man kann wirklich
reizende Frisuren daraus machen. Wenn dir deine alte nicht mehr gefällt
„Sie war sehr nett“, sagte
Ruth, „ganz bestimmt. Aber jetzt möchte ich mal so gehen, wie ich mich selber
frisiert habe.“
„Warum denn nur,
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