Nur Mut, liebe Ruth
hochherrschaftliche Villen, die
zu Anfang dieses Jahrhunderts gebaut und inzwischen in Etagenwohnungen
aufgeteilt worden waren. Die Fassaden waren modernisiert, aber die überdachten
Balkone, die Türmchen, Erker und Veranden waren erhalten geblieben.
Immer wieder riefen Ruth,
Leonore oder Olga: „Hier war’s!“, und immer wieder stellte sich dann heraus,
daß sie sich doch geirrt hatten.
Endlich aber, vor der
Schillerallee 29, waren sich alle einig: Aus dem Vorgarten dieses Hauses mußte
die Perückendame gekommen sein. Alle drei erinnerten sich plötzlich an den
riesigen Hortensienstrauch neben der Haustür und an das besonders hübsche
schmiedeeiserne Törchen. Auch der Abstand zur nächsten Kreuzung, wo Ruth hinter
der Perückendame die Straße überquert hatte, schien zu stimmen.
Jetzt konnten sie darangehen,
das Haus einer genauen Prüfung zu unterziehen. Das Vorgartentörchen ließ sich
mit einer Klinke öffnen, sie liefen über den gepflasterten Weg zum Haus und
entdeckten, neben den Klingelknöpfen, umwachsen von jungem Efeu, ein glänzendes
Messingschild mit der Aufschrift: „Pension Erika“.
„Das ist...“ schrie Katrin.
Aber Ruth stellte sich auf die Zehenspitzen
und legte ihr rasch die kleine Hand auf den Mund. „Still!“ zischte sie. „Wir
müssen das in Ruhe besprechen.“ Sie wandte sich an die anderen. „Kommt!“ Der
Rückzug erfolgte geordnet und mit Würde. Gerade gegenüber dem Haus mit der
„Pension Erika“ stand eine Bank unter einer Platane. Sie war zwar noch ein
bißchen feucht vom gestrigen Regen, aber Olga und Silvy legten ihre Anoraks
unter, und so konnten alle Platz nehmen.
„Was sagt ihr nun?“ fragte
Katrin mit mühsam unterdrückter Stimme. „Eine Pension! Ruth könnte also recht
haben! Wenn P. — wir wollen sie jetzt vorsichtshalber immer P. nennen — von
auswärts ist, kann sie sehr gut dort wohnen!“
„Sicher stammt sie nicht von
hier“, erklärte Silvy, „denn sonst wäre sie der Kriminalpolizei ja schon längst
bekannt!“
„Sie könnte in der Pension
wohnen“, sagte Leonore, „aber auch irgendwo anders im Haus, die Pension nimmt
ja nur zwei Stockwerke ein, vielleicht zur Untermiete oder so...“
„Nein“, behauptete Olga, „das
ist nicht sehr wahrscheinlich! Wenn man Untermieterin ist, achtet die Wirtin
darauf, ob man regelmäßig zur Arbeit geht. Das weiß ich von meiner Cousine
Elly, die ist nämlich Studentin... nein, wenn schon, würde ich auf die Pension
Erika tippen. Nun sag du uns doch mal deine Meinung, Ruth!“
Die Kleine zuckte die Achseln.
„Nichts Genaues weiß man nicht. Es hat gar keinen Zweck zu überlegen, was sein
könnte und was nicht. Wir müssen jetzt einfach abwarten und das Haus im Auge
behalten. Wenn P. tatsächlich hier wohnt, muß sie ja früher oder später einmal
aufkreuzen.“
Also warteten die Mädchen ab.
Sie blieben auf der Bank unter der Platane sitzen, beobachteten das Haus und
die Passanten und versuchten, sich mit allerhand Ratespielen die Zeit zu
vertreiben, die erst schnell, dann immer langsamer verstrich.
Es ging auf Mittag zu, und
gerade hatten sie sich darauf geeinigt, daß zuerst Katrin und Olga, dann
Leonore und Silvy nach Hause zum Essen laufen sollten, als Ruth ganz leise,
aber mit großem Nachdruck sagte: „Laßt euch nichts anmerken, verhaltet euch ganz
unauffällig, dreht euch nicht um... ich glaube, da kommt sie!“
„Wo?“ fragte Katrin, die
zufällig in dieselbe Richtung guckte. „Die Dame in dem weißen Kostüm!“
„Du spinnst wohl, die hat doch
keine...“
„Still, sage ich dir! Doch, so
könnte sie ungeschminkt und ohne Perücke aussehen!“
Jetzt kam die Dame auch in das
Gesichtsfeld der anderen, die in Richtung auf den Vorgarten blickten. Sie sah
sehr elegant aus, ziemlich jung, hatte rotblondes, kurz geschnittenes Haar,
geschminkte Lippen und ummalte Augen.
„Bist du hundertprozentig
sicher?“ fragte Olga ganz verblüfft. „Also nach deiner Beschreibung habe ich
sie mir entschieden anders vorgestellt.“
„Geht ihr nach ins Haus! Nein,
nur du, Olga, und du, Silvy! Schaut, in welchem Stockwerk sie verschwindet,
aber benehmt euch nur nicht auffällig, sondern klettert einfach weiter die
Treppe hinauf, als wenn ihr jemanden besuchen wolltet!“
„Wird gemacht!“ rief Silvy, und
die beiden liefen davon.
Sie erreichten gerade noch die
Haustüre, als die rotblonde Dame hineinging.
„Aber Ruth“, sagte Katrin, „so
nimm doch mal Vernunft an! Wenn das wirklich P.
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