Nur wenn du mir vertraust - Crombie, D: Nur wenn du mir vertraust - Now May You Weep
Gespür für das Land entwickelt, auf dem er lebte – es war wie ein lebendiges Wesen, das nie von seiner Seite wich. Er spürte, wie der Rhythmus der Erde ihn durchpulste; ihr Leben strömte in jeder Faser seiner Haut, seiner Fingerspitzen, seiner Fußsohlen. Wenn die ersten Knospen an den Bäumen auftauchten, tastete er die harten Knötchen, strich mit den Fingern über ihre samtige Haut. Er spürte das Wasser, das unterirdisch dahinfloss, die grünen Schösslinge, die aus der Erde trieben, die schiere Lebensfreude der jungen Lämmer, die auf den Wiesen herumtollten.
Er erzählte niemandem davon, weil er Angst hatte, für verrückt erklärt zu werden.
In der Brennerei war es das Gleiche. Er fühlte den Whisky in jedem Stadium, vom Mälzen der Gerste bis hin zum letzten Destillat – und er wusste, wann er genau richtig war. Er begann sich zu fragen, ob sein Vater am Ende doch Gnade bei Gott gefunden hatte und deshalb seinem Sohn ein letztes Geschenk hatte vermachen dürfen. Welche andere Erklärung gab es denn für das, was mit ihm geschah?
Diese geradezu unheimliche Sensibilität erstreckte sich jedoch nicht auf seine Mitmenschen. Er beobachtete seine Mutter bei ihren täglichen Verrichtungen, und es wollte ihm nicht gelingen, zu ihr vorzudringen. Dabei schien sie gar nicht so todunglücklich; es war vielmehr so, dass der Tod seines Vaters in ihr eine tiefgreifende Veränderung bewirkt hatte, deren Dimensionen Will nicht ermessen konnte.
Und dann war Rab Brodie von Benvulin zu Besuch gekommen. Von der Brennerei am Speyufer bis Carnmore waren es fast fünfzehn Meilen, und Will fragte sich, ob Mr. Brodie diesen Ritt wirklich nur auf sich genommen hatte, um ihnen sein Beileid auszusprechen. Es hatte Will schon nicht behagt, wie Brodie bei seinem Rundgang durch die Brennerei alles mit taxierenden Blicken beäugt hatte, doch es war seine beiläufig-herablassende Art, bei der sich Will die Nackenhaare aufstellten.
Er wusste von den Gerüchten, die unter den Arbeitern kursierten, dass Benvulin aus dem Pattison-Desaster nicht unbeschadet hervorgegangen war, und wenn Brodie schon Mühe hatte, seine eigene Brennerei vor dem Untergang zu bewahren, welches Interesse konnte er dann an Carnmore haben?
Nach einem weiteren fruchtlosen Besuch im Polizeirevier, bei dem selbst die Geduld des freundlichen Sergeants erste Risse zeigte, zog sich Gemma frustriert in den Wagen zurück. Sie überlegte kurz, ob sie sich in der Stadt auf die Suche nach eventuellen Zeugen machen sollte, die Hazel an diesem Morgen gesehen hatten, doch sie musste sich eingestehen, dass die Wahrscheinlichkeit, auf eigene Faust irgendetwas herauszufinden, sehr gering war.
Sie wusste, dass sie Kincaids Rat befolgen und in die Pension zurückfahren sollte, doch es war ihr gar nicht wohl bei der Vorstellung. Sie musste immer an Hazel denken, wie sie allein und verloren im Vernehmungszimmer saß, oder schlimmer noch, wie Chief Inspector Ross ihr erbarmungslos zusetzte – und das nach allem, was sie an diesem Tag schon durchgemacht hatte.
Gemma gab sich redlich Mühe, sich in Ross’ Lage zu versetzen. Hätte sie nicht ebenso gehandelt, mit nichts als den Informationen, die Ross zur Verfügung standen?
Nein, so nüchtern und distanziert konnte sie die Dinge nicht betrachten; es ging ihr ganz einfach zu nahe. Und doch hatten ihre Bemühungen zur Folge, dass sich erste leise Zweifel in ihr zu regen begannen. Was hatte Hazel letzte Nacht wirklich getan? Hatte sie mit Donald gestritten? Und warum war sie in der Frühe so überstürzt aufgebrochen? Wo war sie gewesen, als Donald erschossen wurde? Vor zwei Tagen noch wäre Gemma gar nicht erst auf den Gedanken gekommen, dass Hazel ihr etwas verheimlichen könnte. Wie gut kannte sie ihre Freundin wirklich?
Da sie nicht gewillt war, den Gedanken weiter zu verfolgen, ließ Gemma den Wagen an und fuhr von Aviemore nach Norden in Richtung Innesfree. Als sie die Brücke über den Spey überquerte, merkte sie, dass die Wischerblätter zu quietschen begannen. Es hatte aufgehört zu regnen. Sie blickte auf und sah, dass unter einer dunklen und bedrohlichen Wolkenbank ein Streifen blauen Himmels erschienen war. Die Bergkuppen in der Ferne leuchteten in einem geradezu unwirklichen Grün, und Gemma hatte plötzlich das Gefühl, dass die morgendliche Gewalttat nur ein böser Traum gewesen war.
Wie konnte so etwas hier geschehen sein, in dieser Landschaft, deren Schönheit einem den Atem verschlug? Ein Schauer überlief
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