Nuramon
bin dieses Lebens überdrüssig«, sagte Ceren. In ihrer Stimme lag nicht das geringste Bedauern. »Du hast mir so viele Erinnerungen entlockt und viele Empfindungen. Und damit kam die Sehnsucht. Nun bin ich müde und sehe eines, was ich noch für euch tun kann. Ganz gleich, wie die Folgen aussehen.«
Cerens Antwort machte ihm Angst. »Was genau wird passieren, wenn wir ein Stück des Steins verwenden?«, fragte er.
Sie lächelte, und ihr weißes Haar wehte einmal mehr in einem Wind, der nur sie allein zu umgeben schien. »Ich werde vergehen, sobald ihr ein Fragment löst«, sagte sie. »Aber es ist mein Wille. Denn dies ist für mich kein echtes Leben mehr. Gewährt mir ein würdiges Ende. Löst ein Fragment aus dem Stein, und macht ein Amulett daraus.«
»Willst du das wirklich?«, fragte Nerimee leise und schluckte.
Nuramon glaubte nicht, was er da hörte. Ceren hatte Jahrtausende geschlummert, hatte viel auf sich genommen, um an seiner Seite zu sein, und nun war sie des Lebens müde? In welchen kurzen Zeiträumen maß sie plötzlich? Was waren neunzehn gemeinsame Jahre für einen Baumgeist, der durch die Jahrtausende gegangen war? Sie einmal verloren zu haben, war schmerzlich genug gewesen. Nur der Gedanke, dass Ceren mit sich im Reinen war, tröstete ihn; ganz gleich, wohin ihr Geist entschweben sollte – ins Mondlicht, wie seine Sippe früher geglaubt hatte, oder in die Wiedergeburt, wie sie es später glaubte. Irgendwo in dieser Welt gab es gewiss einen Baum an einer magischen Quelle, der nur darauf wartete, sich Cerens Seele ein zufangen.
»Ich habe mich entschieden«, sagte Ceren. »Betrachtet die Macht, die ich euch gebe, als mein Erbe.« Sie trat nahe an Daoramu heran. »Ein Teil von mir wird deine Jugend bewahren. Mit diesem Wissen kann ich mein jetziges Dasein beruhigt zurücklassen. Nimmst du mein Geschenk an?«
Daoramus Augen glänzten. Sie weinte und brachte kein Wort heraus.
Nuramon drückte Daoramu an sich und erinnerte sich an einen uralten Spruch, den er einst vernommen hatte. So flüsterte er ihn ihr ins Ohr: »Nur wenn die Baumgeister selbst bestimmen, wann ihre Zeit kommt, können sie in Frieden entschwinden oder aber wiedergeboren werden.« Damit wiederholte er Worte, die Ceren vor Jahrtausenden gesprochen hatte. Er hatte sie in seinem zweiten Leben vernommen – einem Leben, an das er sich nur bruchstückhaft erinnerte und zu dem er nun ein neues Mosaiksteinchen gefunden hatte.
Da endlich nickte Daoramu.
Ceren schmunzelte. »Das ist gut, meine Liebe. Ich freue mich darüber. Und ich bin mir sicher, dass jenseits dieses Geisterdaseins ein neues Leben auf mich wartet. Ich muss meinen Geist von dieser Gestalt lösen, damit er sich anderswo an eine neue knüpft, einen Körper mit Gefühlen, wie früher – vielleicht ein wenig kleiner. Sei es in dieser Welt oder in einer anderen. Denn wer weiß schon wirklich, was jenseits dieses Lebens liegt?«
Daoramu verbrachte viel Zeit an der Seite von Ceren, während Nura mon und Nerimee den großen Zauber vorbereiteten. Die Geisterfrau erklärte, dass sie jedem, der zu ihr kommen wollte, einen Rat mit auf den Weg geben würde. Und so ließ Daoramu eine Feuerschale im Park hinter dem Palast aufstellen, in der bei Tag und bei Nacht der weiße Stein in den Flammen ruhte. An sonnigen Tagen reichte die Schlange der Besucher bis zum Tor des Anwesens. Selbst bei Regen kamen kaum weniger, und Ceren nahm sich für jeden einzelnen Ratsuchenden Zeit.
Am zehnten Tag der Vorbereitungen kehrte Borugar mit Yargir, Bjoremul und den Kriegern aus dem Süden zurück. Graf Flarigor war besiegt. An der Grenze zu Nyrawur hatten sie sich mit den Feinden eine Schlacht geliefert, und Bjoremul hatte Heldentaten vollbracht. Fürst Rawilo von Nyrawur hatte nach der Niederlage einem Waffenstillstand zugestimmt.
Am Abend der Rückkehr gab Borugar eine große Feier, und der An drang, der Bjoremul entgegenschlug, bewies, dass er durch seine Taten die Herzen der Jasborer gewonnen hatte. Weitere vier Wochen später – am 17. Ramugol – feierte Gaerigar seinen vierzehnten Geburtstag, und er schien die Ablenkung zu genießen. Vom Abschied Cerens gab er sich unbeeindruckt, aber Daoramu wusste nur zu gut, dass das ein Maskenspiel war, das seine wahren Gefühle verbergen sollte.
Zwei Tage später war Nuramon bereit, den Zauber zu wirken.
Der ganze Hof war zugegen, und der Thronsaal und auch die weite Eingangshalle war voller Gäste: die wichtigsten Persönlichkeiten der
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