Nuramon
gleich, ob sie ihr nun durchs Haar, über die Stirn oder die Wange strich.
»Und wenn es hundert Jahre dauert, wir werden dich retten«, sagte Nerimee.
Als Nuramon ins Freie trat, schlug ihm die Magie wie die schwere Luft eines heißen Sommertages entgegen. In der Krone der Birkeneiche schwebte grauer Nebel, in dem ein Glitzern hin und her lief. Salyra und Lyasani wichen langsam von dem Baum der Ceren zurück, während Nuramon an Yendreds Seite näher trat. Wenngleich es ein frischer Tag war, strahlte die Birkeneiche warme Magie aus, und obwohl es den ganzen Tag trocken gewesen war, tropfte es aus dem Laub des Baumes, als wäre der Nebel nichts anderes als ein Wolkendach, aus dem sich der Regen löste.
Salyra und Lyasani wagten sich wieder vor. »Was ist das nur?«, fragte Bjoremuls Tochter und schaute zu Nuramon auf.
»Ich weiß es nicht«, sagte er leise und blickte in das verängstigte Gesicht der jungen Kriegerin, deren blasse Narbe den Blick direkt zwischen die Augen lenkte.
Salyra aber lächelte. »Was auch immer es ist – es ist wunderbar«, sagte sie, sah Yendred an und griff dann nach seiner Hand.
Nuramon wagte sich langsam vor. Das Wasser, das aus der Krone herniedergeregnet war, sammelte sich in Pfützen, die so bleich waren wie verdünnte Milch. Der Dunst in der Krone schwand mit dem Regen, und mit ihm die Wärme des Zaubers. Doch dann umwehte ein kühler Wind den Stamm, und frischer Blätterduft schwebte umher. Nuramon schloss die Augen und sog die Luft sanft ein. Erinnerungen an die frühen Zeiten seiner Sippe krochen empor. Wie oft war er mit diesem Duft erwacht, hatte die Augen geöffnet und ins Blätterwerk der großen Birke geschaut! Und als er die Augen nun wieder öffnete, geschah es: Vor ihm stand eine blasse Frau mit weißem Haar und schwarzen Augen und lächelte ihn mit ihren schmalen, geschwungenen Lippen an. Sie trat näher, blieb direkt vor Nuramon stehen, musterte ihn und ließ ihren Blick dann über Yendred, Lyasani und Salyra gleiten.
»Ceren!«, rief Yendred ungläubig, und Lyasani wiederholte den Namen des Baumgeistes leise.
Nuramons alte Vertraute nickte. »Ihr habt mir die Macht zugetragen, die mir noch fehlte«, sagte sie schmunzelnd. »Ich danke euch.«
»Waren das wirklich wir?«, fragte Nuramon und sog erneut Cerens Duft ein. Es war, als steige ihm der Trost von Jahrtausenden durch die Nase ins Gemüt.
»Es war unabsichtlich?«, fragte sie.
Nuramon nickte und erklärte ihr kurz, was mit der Magie und Daoramu in all den Jahren ihrer Abwesenheit geschehen war. Sie lauschte, nickte, und schließlich verging ihr Lächeln in einer Miene tiefster Trauer. »Es tut mir leid, dass euer Zauber nicht geglückt ist.« Sie schmunzelte. »Aber wie damals, als deine Frau das Alter fürchtete, gibt es Hoffnung.«
Nuramon strich mit seiner Hand dicht über die Wange der Geistergestalt und spürte den vertrauten Hauch ihrer Magie. »Wusstest du, dass du wieder erblühen würdest?«, fragte er.
Ceren lächelte. »Ich bin wieder da. Ist das nicht Antwort genug?« Sie schaute zu Yendred und streckte die Hand in seine Richtung. »Komm zu mir«, sagte sie ihm, und als er näher gekommen war, ließ Ceren ihre Geisterhand durch seine Wangen dringen. »Du bist ganz der Mann geworden, den ich in dir erkannt habe.«
Yendred standen die Tränen in den Augen.
Ceren wandte sich an Lyasani und zeichnete mit ihrem Finger die Narbe nach, die ihr schräg übers Nasenbein lief. »Erinnerst du dich, was ich dir sagte?«
»Dass es ein Zeichen des Überlebens ist?«, entgegnete Bjoremuls Tochter.
Ceren nickte und schaute dann Salyra an. »Dein Lachen habe ich oft vernommen. Ein offenes Lachen, das mir manchen Tag versüßte.«
»Warst du die ganzen Jahre wach?«, fragte Nuramon.
»Ich wuchs aus den Resten meines Steines heran. Und je weiter ich emporwuchs, umso mehr spürte ich von dieser Welt.« Sie tat so, als atme sie tief ein, und über ihr raschelten die Blätter ihres Baumdaches. »Der Stein konnte mir dieses Körpergefühl nicht geben. Ich bin nun wieder ein beseelter Baum, der die Magie dieser wogenden Welt atmet. Seit vorletztem Sommer vernehme ich beinahe alles, was unter meinem Blätterdach geschieht. Es schmerzt zu hören, dass Gaerigar und Yargir tot sind. Ich hätte gerne noch Zeit mit ihnen verbracht. Und auch Daoramus Schicksal nagt an mir.« Ceren trat aus dem Schutz des Laubdaches hervor, stellte sich zwischen sie und schaute in die Runde. Dabei wurde ihre Gestalt ein wenig
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