Nuramon
über den welligen Boden hinüber zur Insel. Kurz davor spürte Yendred die Präsenz des Albenpfades und sah auch die Muscheln. Dann folgte er dem Fingerzeig seines Vaters zum Wald hinüber. »Dort ist die Lichtung, auf der Farodin und Noroelle ins Mondlicht entschwanden.« Er seufzte leise. »Hier fühlt sich Albenmark so nahe an – nur wenige Schritte waren es damals, und jetzt ist es unerreichbar fern.« Er verharrte lange regungslos. Dann aber lächelte er plötzlich und sagte: »Ich zeige euch etwas. Wartet, bis ich euch hole.«
Sein Vater öffnete eine Zauberpforte, verschwand im Licht und ließ so lange auf sich warten, dass Yendred erwog, ihm zu folgen, ehe sich das Tor von allein schließen konnte. Da erschien sein Vater wieder mit einem Lächeln auf den Lippen. »Kommt«, sagte er, und schon war er wieder verschwunden. Yendred folgte ihm ohne zu zögern. Er ahnte schon, wohin ihn sein Vater führen würde.
Yendred war noch von Licht umgeben, als ihm der Geruch von Kräutern und Quellwasser in die Nase stieg. Seine Füße senkten sich ins Leere, trafen dann auf weichen Grund. Eine bewaldete Insel erhob sich ein Stück entfernt aus einem Meer aus Nebel, das rings umher in der ewigen Nacht verschwand. Sie waren in der Zerbrochenen Welt, und dies war der Ort, an dem Noroelle über Jahrhunderte hinweg gefangen gewesen war.
Yendreds Vater stand vor ihm und starrte der Insel entgegen, während die Gefährtinnen hinter ihm durchs Tor kamen und sich erstaunt umschauten. »Warum sind wir nicht auf den Albenpfaden?«, fragte Salyra.
»Dies ist ein Splitter der Zerbrochenen Welt«, sagte Yendred. »Die Tore zwischen den Welten kann man nur so öffnen, dass man, wenn man hindurchgeht, direkt am Ziel erscheint.«
»Geht das nicht auch zwischen zwei Albensternen in unserer Welt?«, fragte Salyra mit faszinierter Miene, während Nylma und Lyasani eher beunruhigt wirkten.
»Es gab Zauberer, die das vermochten«, sagte Nuramon. »Thorwis, der Weise des Zwergenvolkes, konnte Tore errichten, die einen Ort direkt mit einem anderen verbanden. Aber mir ist diese Magie fremd.«
Yendred nickte. Nuramon hatte ihm oft erzählt, dass er an dem Torzauber, den er beherrschte, nichts weiter ändern wollte. Er hatte ihm von dem Preis eines Fehlers erzählt: dass man im schlimmsten Fall Jahre oder gar Jahrhunderte später am Bestimmungsort erschien. Nun, da sein Vater auch ihn diesen Zauber lehren wollte, wurde ihm umso deutlicher bewusst, welche Verantwortung er schon bald in Händen halten würde.
»Kommt«, sagte Nuramon und schritt der grünen Insel im Nebel entgegen. Sie gingen in den Wald hinein und stiegen über dicke Wurzeln. In die Baumkronen war ein dünner Schleier grünlichen Lichtes geflochten, fast so wie die Wolke aus Magie, die sich im Geäst der Birkeneiche verfangen hatte. Aus dem Licht senkte sich Dunst herab.
»Alles hier speist sich aus Noroelles Macht«, sagte Nuramon leise. »Selbst das Vogelgezwitscher entsprang allein Noroelles Erinnerung.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Hauch von ihr ist hier noch lebendig.« Dann hielt er inne, ging in die Hocke und erstarrte. Auch Yendred sah, was dort vor seinem Vater im Boden steckte. Es war ein Kurzschwert mit makellos glänzender Klinge und einem von Elfenmus tern verzierten Wiegenknauf. Nuramon berührte die Elfenschrift auf der Parierstange. »Gaomee!«, sagte er leise.
Yendred schnappte nach Luft. » Das ist Gaomees Klinge?«, sagte er. Er hatte die Geschichte von Gaomee der Drachentöterin geliebt, konnte aber bis heute nicht fassen, dass sie seine Halbschwester war – das Kind, das Nuramon nie kennengelernt hatte. Jetzt war er überwältigt und verstand gut, dass seinem Vater die Tränen in den Augen standen, als er das Kurzschwert mit einem Ruck aus dem Boden zog. Die Walderde fiel von der Waffe ab, und Nuramon hielt die glänzende Klinge zwischen die Gefährten, sodass alle sie betrachten konnten. »Das ist Sternenglanz aus Aelburin, dem Reich der Zwerge«, sagte er. »Es war ein Geschenk der Zwerge an Königin Emerelle. Ein besseres Metall ist mir nie begegnet.«
Sein Vater zögerte kurz, dann reichte er die Waffe Nylma, die sie in ihren Händen wog, sie probeweise führte und immer wieder staunend innehielt. »Es ist so leicht«, sagte sie und wollte das Kurzschwert zurückgeben, doch Nuramon winkte ab. »Wenn du willst, kannst du es tragen«, sagte er.
»Aber Gaomee war deine Tochter. Wäre es da nicht richtig, die Waffe deinem Sohn zu geben?«
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