Nuramon
schauen, wohin sie führen.«
Nuramon saß neben Daoramu im Eingang ihres Zeltes. Die Schmerzen, die ihn geplagt hatten, waren fort. Und doch fühlte er sich träge wie ein Felsbrocken, der nur von einem Zauber in der Luft gehalten wurde und irgendwann ins Wasser tauchen musste. »Ich kann aufstehen, gehen und sitzen. Aber mein Körper ist nicht mein Körper.«
Daoramu küsste ihn auf die Wange, und es waren nicht ihre Lippen auf seiner Haut, die ihm einen Gefühlsschauer bescherten, sondern die Magie, die von ihrem Mund sprang und tief in ihn eindrang. Die Orakel hatten recht. Obwohl die Magie überall abebbte, war Daoramu die Macht geblieben.
Draußen waren die goldenen Lichtadern, die sich über den Boden gespannt und über den Himmel gewölbt hatten, längst für das Auge verschwunden, aber Nuramon spürte sie noch immer wie Rinnsale, in die er seine Finger hielt.
Im Lager herrschte reges Schaffen. Die Lichtpforte am Albenstern war offen und ragte gewiss zehn Schritt in die Höhe. Unten ging ein Krieger hinter dem anderen ins Licht, oben flogen immer wieder Geister auf die Albenpfade, oder sie kamen von dort, strebten aus dem magischen Licht in das des ausgehenden Tages und glitten davon. »Blireena hat gesagt, dass sie die Wächter der Albenpfade sind«, flüsterte Nuramon.
Daoramu nickte und strich über seine Finger. »Sie nannte sie Lebenspfade.«
Er lächelte, aber sein Gesicht fühlte sich zäh an. »Das gefällt mir.«
Neben dem Lichttor lagerten die Orakelwächter bei den Quellsteinen, welche die Magie für den Siegelzauber getragen hatten. Sie warteten darauf, dass die Geister das Tor auf die Albenpfade schlossen und ein Tor in die Barinsteinhöhle öffneten, durch das ihre Familien kommen konnten.
»Da ist Ningilim«, sagte er.
»Wie kannst du ihn von den anderen unterscheiden?«, fragte Daoramu.
»Er hat buschigere Augenbrauen und dickere Wangenknochen«, erklärte er.
Daoramu schaute hinüber und nickte. »Die Welt hat ein neues Volk. Und wir haben ihnen viel zu verdanken. Wo sie nun wohl leben werden?«
Nuramon zwinkerte ihr zu. »Du planst schon wieder etwas. Das ist gut. Das heißt, du hast dich damit abgefunden.«
Sie lächelte ihn an und strich ihm über die Wange. »Als ich aus dem Schlaf erwachte, war jeder Tag mit dir ein Geschenk. Jetzt ist es jeder Augenblick. Ich wäre verzweifelt, hätte es dort in den Tiefen der Welt geendet.«
Er nickte. »Davor haben sich die Orakel gefürchtet. Aber eines verstehe ich nicht: Warum haben sie gesagt, dass das Hinauszögern meines Todes und das frühere Erscheinen der Geister hier die Zukunft so verändert, dass sie ratlos sind, was geschehen wird?«
»Sie sahen zuvor wohl, was geschehen würde, wenn sie nicht Teil des Spiels würden. Nun müssen sie warten, bis sich die Magie weit genug gelegt hat, ehe sie wieder alles klar sehen.«
»Aber sie wussten, dass Nerimee, Yendred und all die anderen sterben würden, wenn ich ins Mondlicht ginge und die Geister nicht hier erschienen. Sie wussten sogar, dass da eine völlig andere Zu kunft wartet. Sie sagten, sie würden dich verlieren. Es ging ihnen um dich – das Orakel Daoramu.«
Daoramu senkte den Blick. »Das kann ich immer noch nicht fassen. Und ich bin auch erleichtert, dass diese Zukunft nicht auf mich wartet.«
»Aber das ist es ja. Gerade weil die Orakel uns halfen, bist du ihnen wohlgesinnt. Sie haben die Voraussetzungen geschaffen, dass sie dich unterweisen können.«
»Vielleicht liegt etwas in der Zukunft, das meinen Weg zum Orakel unmöglich macht«, sagte sie. »Möglicherweise wird jemand leben, der tot sein sollte, oder es wird jemand sterben, der leben sollte.«
Nuramon nickte und strich Daoramu mit seinen unruhigen Fingern das Haar zurück. Er dachte an das, was dieser Tag ihnen geschenkt und was er ihnen genommen hatte. Nie wieder würde auf einem Schlachtfeld die Heilmagie so Gewaltiges bewirken wie auf den Himmelswiesen. Magie würde rar werden. Neben den Geistern, den Orakeln und Ceren würden seine Kinder und einige wenige Menschen wie Sawagal und Oregir noch die Zauberei beherrschen. Solange seine Familie sich seiner erinnerte und sie wie auch andere von ihm und seinem Leben berichteten, würde ein Teil von ihm wie ein Geist in dieser Welt umherschweben; so wie ein Teil von ihm immer mit Albenmark verknüpft blieb. Dort erzählte man sich von Nuramon, dem Wanderer, und vielleicht hatten Emerelle oder gar Yulivee die Weitsicht, seiner Sippe zu erzählen, welches
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