Nuramon
war es ihr so erschienen, als hätte sie seine Geste missverstanden. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihre Hand tatsächlich seine Haut berührt hatte. Nun aber gab es keinen Zweifel an seiner Liebe. Und sie konnte es kaum aushalten. Ihre Hände zitterten, und sie wusste nicht, was sie tun sollte.
»Ich bin ebenso überrascht wie du«, sagte ihre Mutter.
»Dass ein Alvaru eine Menschenfrau lieben kann? Dass er mich lieben könnte?« Sie schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippen.
Jaswyra lachte leise. »Nein. Liebes, das wundert mich nicht. Die Antwort deines Vaters hat mich überrascht.«
Daoramus Vater hatte all die Jahre über so sorgsam darauf geachtet, wer ihr die Aufwartung machte, und nun gab er so einfach nach. »Warum hat er das getan?«, fragte sie.
Jaswyra legte den Kopf schief. »Er hat eine Schwäche für die Geschichten um die Alvaru. Alles, was Großvater Byragar dir erzählte, hat er auch deinem Vater erzählt, als er noch klein war. Wer weiß, was die Ankunft dieses Alvaru in seinem Herzen bewirkt hat.«
Daoramu ließ sich auf eine Bank am Fenster sinken. »Ich habe Großvaters Geschichten irgendwann nicht mehr geglaubt. Und dann sehe ich diesen Elfen. Und ich sehe, was er vermag und wie bescheiden er mit all seiner Macht ist.«
»Bescheidenheit führt in unserer Zeit geradewegs ins Verderben«, sagte Jaswyra. »Bescheidenheit wird als Schwäche ausgelegt, und wer schwach ist, über den kommen die Rivalen und die Feinde wie die Wölfe.«
Daoramu schüttelte den Kopf. »Er ist anders. Nuramon sieht keine Scham in der Schwäche. Es ist ihm gleichgültig. Er neigt einfach der Wahrheit entgegen.«
»Das ist noch schlimmer, Kind. In diesen Zeiten kann man nicht überleben, ohne zu lügen.«
»Er kann schweigen, Mutter.« Und wie er in seiner Elfengeduld schweigen und ausharren konnte! Es war eine Eigenschaft, über welche die Wenigsten verfügten.
Jaswyra nickte anerkennend. »Das wiegt freilich die Bescheidenheit und den Hang zur Wahrheit wieder auf.« Sie schaute Daoramu in die Augen, bis sie blinzelte; dann lächelte sie. »Wirst du seinem Werben nachgeben?«
Die Furcht schoss mit einem Mal in ihr empor. Würde sie seiner Liebe gewachsen sein? Sich vor ihm zum Narren zu machen, würde gewiss mehr schmerzen als alles andere. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie ihrer Mutter.
»Aber du liebst ihn. Das merke ich doch.«
»Aber hat es auch Bestand? Ist es mehr als die Liebe der Gefangenen zu ihrem Retter? Mehr als das Schwärmen für eine leibhaftige Märchengestalt? Welche Zukunft hat unsere Familie, wenn ich mich einem Alvaru anvertraue? Kann er sich in unsere Familie einfügen? Können wir Kinder haben? Es sind so viele Fragen.« Es war wie immer: In der Hitze des ersten Überschwangs drängte sich ihr Verstand zu ihren Gefühlen durch und stellte alles in Frage.
»Aber du liebst ihn?«, fragte Jaswyra.
Sie musste lächeln. »Ja«, sagte sie. Alles andere wäre eine Lüge gewesen.
Ihre Mutter fasste ihre Hände. »Zerdenke es nicht, wie du sonst immer alles zerdenkst. Dein Vater hat dir ein Geschenk gemacht, das nur wenigen gegeben ist: Du darfst deinem Herzen folgen.«
»Aber ich bin nicht die Frau, die sich einfach fallenlässt.« Daoramus Gedanken rasten. Die Familie ihrer Mutter wollte nichts von ihnen wissen, ihr Vater hatte ebenso wie sie selbst keine Geschwister, Daoramus Großeltern waren tot, und mit den anderen Zweigen der Yannaru hatten sie kaum etwas zu tun. »Stell dir vor, wir könnten keine Kinder haben, Mutter. Das würde unsere Familie auslöschen.«
»Der Alvaru hat nicht um deine Hand angehalten«, sagte Jaswyra. »Er bat nur darum, um dich zu werben. Er scheint ähnliche Vorbehalte zu haben. Wenn er wiederkehrt, werdet ihr Zeit haben, euch kennenzulernen und alle Fragen auszuräumen.«
Die Worte ihrer Mutter erweckten eine bittere Erkenntnis: Nuramon würde mit Jasgur und den anderen nach Teredyr gehen, um dort zu kämpfen. Ihn in der Ferne zu wissen, den Gefahren des Krieges ausgesetzt, vertrieb jede Ruhe und jeden klaren Gedanken. »Ich muss zu ihm«, sagte sie. »Ich muss ihm sagen, was ich fühle, ehe er fortgeht.«
»Nein.« Jaswyra fasste Daoramus Hand. »Du musst dich jetzt rarmachen. Verabschiede dich nachher von ihm, und gib nicht preis, was du vernommen hast. Kleide dich in dein edelstes Kleid, gewähre ihm dein anmutigstes Lächeln. Nicht mehr, nicht weniger.«
»Aber er könnte im Kampf sterben!«
»Je weniger du mit seinem Herzen
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