Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
mir mal verraten, wann du dich in meinen Vater verwandelt hast? Himmel, Erijel, hör auf wie ein Lehrer zu reden! Übrigens«, fuhr er mit einem Augenzwinkern zu Nill fort, »ist Erijel ohnehin der Schlimmste von uns allen. Denn obwohl er mir immer droht, dass er mich an meinen Vater verrät, begeht am Ende immer er die größte Untat. Stell dir vor, dass er einem Mädchen namens Ylenja geschworen hat, dass er sie liebt – obwohl ein Ritter niemandem außer seinem Herren schwören darf …«
Ein etwas strengerer Unterton lag nun in Kavehs Stimme. Aber er verschwand sogleich wieder, als er ein Lachen unterdrücken musste. »Und geschworen hat er es ihr mit einem Brandmal!«
Mareju und Arjas stürzten sich auf Erijel und zogen ihm den Ärmel hoch. Auf der Innenseite seines Unterarms war ein geschwungenes Zeichen, ein Buchstabe wohl, in die Haut gebrannt.
»Lasst das!«, keifte Erijel und versuchte, sein glü-
hendes Gesicht hinter einer wütenden Miene zu verbergen. »Das ist nur – es ist nur ein Zeichen, einfach so!«
Daraufhin erntete er noch lauteres Gelächter. Aber Nill schien Erijel mit einem Schlag sehr viel sympa-thischer.
Später am Abend sangen die Elfen Nill alte Volks-lieder vor und erzählten ihr von ihren Festen und Bräuchen, die alles andere als blutrünstig waren und nichts mit den Schauermärchen zu tun hatten, die die Menschen sich ausmalten. Nur manchmal erwähnten die Ritter ein paar Begriffe, die Nill nicht verstand; sie beinhalteten geheimnisvolle Zauber, die Nill nur erahnen konnte.
Eines der Elfenlieder, die die Ritter ihr im Takt klatschend vorsangen, gefiel Nill besonders:
»Feuer der Dämonennacht,
tanz mit dem Lied, das hier erwacht!
Leuchte nun für hundert Jahre,
die eine Nacht nur in dir wahre.
Sollt unser Volk einmal vergehen, wird tief im Schlaf Erinnerung bestehen, die als Legende einst erwacht;
drum tanz für hundert Jahre,
Feuer der Dämonennacht!«
Die Dämonennacht, so erklärte man ihr, war ein Fest, in der die Jungen und Mädchen tanzten, bis die Feuer im Morgengrauen erloschen. Die Ritter baten auch Nill, ihnen ein Lied der Menschen vorzusingen. Und Nills Herz zog sich zusammen.
Nur ein Lied kam ihr in den Sinn. Nur eines, das
zu stark in ihrer Erinnerung brannte, um vergessen zu werden: das Lied vom Dornenmädchen!
»Nein«, sagte sie mit leiser Stimme. »Ich kenne keine Lieder.« Als die Elfen sie verwundert ansahen, fügte sie schnell hinzu: »Was aber natürlich nicht heißt, dass es bei den Menschen keine Lieder gibt.
Aber ich mochte die gesprochenen Gedichte der Menschen lieber.«
»Gesprochene Gedichte?« Kaveh lächelte. »Willst du uns eins vortragen?«
Nill fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Nie hätte sie gedacht, dass sie mal ein Gedicht aufsagen würde. Doch dann, kaum dass das erste Wort ihr ü-
ber die Lippen gekommen war, schien das Gedicht wie von selbst zu fließen:
»Dreh dich, dreh dich, Schicksalsrad!
Komm Leben, ungestüm und zart.
Lass mich fliegen auf den Winden, wie ein Lichtstrahl kommen und verschwinden.
Ich will mutig sein und feige wie die Wellen und die Herzen dieser Welt erhellen.
Nur sollst du so wild sein, wie ich bat, und ich dreh mich, dreh mich mit dem Schicksalsrad.«
»Ein schönes Gedicht«, sagte Kaveh und verschränk-te nachdenklich die Arme auf den Knien. »Ich wusste, um ehrlich zu sein, nicht, dass die Menschen …
Na ja, bei den Elfen erzählt man sich viel Unfug über sie, glaube ich.«
»Das tut man bei den Menschen auch über euch«, sagte Nill.
»Es ist furchtbar!«, rief Kaveh. »Die Menschen und Elfen hassen sich, obwohl sie im Grunde nichts voneinander wissen! Wenn ich einmal König bin, werde ich etwas daran ändern.«
»Du wirst König? Ich dachte, du hättest einen älteren Bruder.«
»Ja und?«, meldete sich Mareju zu Wort. Seine Augen waren schon schläfrig klein geworden. »Oh ja«, murmelte er. »Ich hab ja vergessen, bei den Menschen erben die ältesten Kinder alles. Bei uns ist das anders … Kaveh wurde bestimmt, König zu werden und die Krone zu tragen.«
Kaveh lächelte, als sich Marejus Worte in einem schläfrigen Nuscheln verloren. »Es ist schon spät«, sagte der Prinz der Freien Elfen leise. »Wir sollten schlafen.«
Nill nickte. Sie zog sich die Decke über die Schultern und rollte sich nahe dem Lagerfeuer ein.
»Gute Nacht«, flüsterte sie.
»Gute Nacht.«
Sie schloss die Augen und hörte das Knistern der Flammen, das Flussrauschen, das Zirpen der Grillen
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