Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
und das ruhige Atmen der schlafenden Zwillinge.
Bald hing ein Flüstern in der Luft. Es war das Flüstern von Kaveh und Erijel. Nill lauschte ihm, wie man einem Lied lauschen würde. Sie lauschte dem Klang der melodischen Elfensprache und schlief mit dem Gedanken ein, dass sie sehr, sehr hübsch klang …
Die falsche Fährte
Sie brachen früh morgens auf. Wie am Tag zuvor erklärte Kaveh sich bereit, mit Bruno zu Fuß zu gehen. Nill erschien es mittlerweile gar nicht mehr seltsam, dass des Prinzen Haustier ein Wildschwein war.
Junge und Keiler gingen in äußerster Vertrautheit miteinander um und der eine wich nicht von der Seite des anderen. Später, als sie auf dem Fluss dahin-fuhren, fragte Nill Erijel, wie Kaveh zu dem Keiler gekommen sei. Und sie war fast ein bisschen überrascht, dass Erijel ihr nicht nur in einem knappen Satz antwortete.
»Das war eine der wenigen Leichtsinnigkeiten von ihm, die noch mal gut gingen«, erklärte er mit einem kleinen Lächeln. »Als er zehn war, ist Kaveh mal in die Wälder gegangen. Er hat eine Gruppe menschlicher Jäger beobachtet, die ein Wildschwein gejagt haben. Sie erlegten es. Als die Menschen mit ihrer Beute verschwunden waren, war Kaveh den Spuren des Wildschweins zurück zu dem Ort gefolgt, wo es von den Menschen entdeckt worden war. Er hat einen sechsten Sinn dafür, Gefahren auszumachen.
Leider fehlen ihm dann die restlichen fünf Sinne, um den Gefahren aus dem Weg zu gehen. Jedenfalls hat er den Unterschlupf des Wildschweins gefunden, obwohl es in den Yen Argwba, den verbotenen Wäldern gewesen ist, wo die Menschen jagen und ein Elf mit Verstand sich besser nicht zeigt. In dem Erdbau
war ein einziger Frischling, kaum ein paar Wochen alt. Kaveh hat das Findelschwein mit nach Hause genommen. Das ist Brauch, dass ein Elf ein Tier auf-nimmt, das ohne ihn sterben würde. Normalerweise ist es ein verstoßenes Wolfsjunges, ein verletzter Ha-bicht oder Falke oder ein Rabe, manchmal auch ein Fuchs – aber einen Keiler mitzubringen, darauf kann nur Kaveh kommen. Irgendwie hat er es geschafft, mit Bruno die Freundschaft aufzubauen, die Elfen und ihre Tierbrüder verbindet. Auch wenn nur wenige es ihm zugetraut haben.«
Nill blickte in den Wald, der Baum um Baum an ihnen vorbeizog. Irgendwo in seinen Schatten wanderten nun Kaveh und sein Keiler. Nill spürte, wie ihr das Herz schwer wurde, weil die Freundschaft der beiden so innig war – und weil sie so eine Freundschaft nie gehabt hatte. Ein sehnliches Gefühl kam erneut in ihr auf, das sie schon seit dem Auftauchen der Elfen hatte: Wieso war sie bei den Menschen aufgewachsen? Wieso konnte sie nicht zu den Elfen gehören?
Wie gestern blieb der Tag bewölkt und ein wenig kühl. Die Luft hing schwer und still über ihnen und war erfüllt von süßen Sommergerüchen, die sich hier, inmitten der tiefen Wälder, prächtiger entfalte-ten als irgendwo sonst. Trotzdem mischte sich eine Kühle in den Duft, erwartungsvoll wie ein angehaltener Atem – man konnte es fast schmecken. Nill kannte diesen Geruch sehr gut. Es würde Regen ge-
ben. Die Stunden verstrichen. Mittags ruderten sie ans Ufer, Kaveh stieg ins Boot und Erijel ging an Land, um mit Bruno den Fußweg zu nehmen. Nill hatte inzwischen alle Scheu vor den Elfen verloren und wurde nicht mehr unruhig, wenn sie nichts zu besprechen hatten und einfach stillschweigend beieinander saßen. Nur manchmal, wenn sie Kavehs Blick auf sich spürte, wusste sie nicht recht, wie sie sich verhalten sollte.
Abends gingen sie wieder an Land und machten ein Feuer. Sie aßen und erzählten und Nill schloss ein bisschen Freundschaft mit Bruno. Genau genommen beschnupperte er sie und schnaubte sie an, als wollte er sagen, dass sie für ihn schon in Ordnung war. Vielleicht ein wenig uninteressant verglichen mit den Nüssen und Pilzen auf dem Waldboden.
Erst als die Nacht fast vorüber war und die Dämmerung hereinbrach, erfüllte sich Nills Ahnung. Ein leises Grollen rollte durch die Wälder. Bald fielen hier und da Tropfen durch die Baumkronen. Dann trommelte der Regen auf die Blätter. Nill, die Elfen und Bruno erwachten notgedrungen und beschlossen aufzubrechen. Mit hochgezogenen Schultern stiegen sie in die Barke und Kaveh blieb wie gewohnt bei Bruno.
Der Regen verwandelte den Fluss in ein graues Sprengfeld und malte unzählige Ringe auf die Oberfläche. Es dauerte nicht lange, da waren Nill, Mareju, Arjas und Erijel bis auf die Knochen durchnässt. Nill zog die Knie an den
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