Nybbas Nächte
vor dem sie oft zurückschreckte. Stattdessen überspielte sie ihre Hilflosigkeit und sagte, dass alles gut werden würde.
Süß.
Verdammt, wäre er nicht sicher, dass er ihr damit Angst einjagen würde, so hätte er sich materialisiert. Wäre zu dem Dämon geworden, der den Schatten warf, um sie berühren zu können. Um sie zu riechen und sie mit aller dämonischen Kraft zu begehren, und zugleich genau davor zu schützen. Er spürte die Energien flackern, seine Gestalt flimmern, als wollte sein Körper die Entscheidung an sich reißen.
Nein, du Narr! Reiß dich zusammen.
„Danke“, flüsterte sie, als er näher kam, so nah, dass seine Präsenz fast gefährlich für sie wurde. „Dafür, dass du das Messer aufgefangen hast. Aber beim nächsten Mal nimm bitte etwas anderes als deinen Körper dazu.“
Während sie warteten, versuchte er mit seiner mentalen Stimme zu Sunna zu sprechen. Sie hatte ihr Balisong aus dem Türstock gezogen, und, er schauderte, leckte die Klinge kurzerhand sauber, ehe sie es zusammenschnappen ließ und in ihre Tasche steckte. Seine Anwesenheit ignorierte sie. Zwar hörte sie ihn, aber offenbar verstand sie keine der Sprachen, mit der er sie ansprach, und Isländisch zu lernen hatte er immer als überflüssig erachtet. Sie versuchte gar nicht, ihm zu antworten. Möglicherweise war sie vollkommen stumm, sowohl im Menschenkörper, als auch im dämonischen.
Sein Misstrauen ihr gegenüber nagte nicht mehr ganz so störend, als sie sich zu Joana kniete und ihr über den Rücken strich, um sie zu beruhigen. Sunna bemerkte, dass Joana infolge der Nähe zu seiner Schattengestalt vor innerlicher Kälte bebte. Sie holte eine Wolldecke und legte sie Joana über die Schultern. Rut zog ihren Mantel an. Trotzdem froren beide Clerica. Nicholas spürte Sunnas Emotionen nicht, Joanas dagegen waren für ihn ein offenes Buch. Sie verzieh Sunna die Messerattacke, offenbar glaubte sie, dass Sunna sie für eine Angreiferin gehalten hatte, die Rut Böses wollte. Mehr noch, Joana schien Sunna zu mögen.
Wenig später traf der Notarzt ein, ein kleiner kugelförmiger Mann mit einer blank polierten, an eine Bowlingkugel erinnernde Glatze. Nun gelang es Sunna wahrlich, Nicholas zu beeindrucken. Sie drang konzentriert in den Geist des Arztes ein, manipulierte diesen, sodass er seine Arbeit verrichtete, ohne zu bemerken, dass sein Patient tot war. Sorgfältig reinigte und desinfizierte er die Stichwunde, spülte sie mit Antibiotika und setzte sich eine Lupenbrille auf. Von morbider Faszination gebannt betrachtete Nicholas, wie der Arzt die Wunde mit einer Klemme weitete und mithilfe einer winzigen, gebogenen Nadel die größeren Adern nähte. Schweiß glänzte bald auf der Bowlingkugel, dabei hatte der Arzt seit den toten Schweinen im Studium sicher keinen derart kooperativen Patienten mehr gehabt. Nicholas’ Körper hatte vor lauter Entgegenkommen sogar das Bluten eingestellt.
Joana dagegen wandte sich Stich für Stich weiter ab, ihre Gesichtsfarbe ließ die Vermutung aufkommen, dass sie sich danebenlegen würde, wenn sie zu genau hinsähe.
Nachdem die Menschenhülle sorgfältig geflickt und verbunden war, ließ der brave Doktor sie widerspruchslos liegen. Zwar schlug er offenbar weitere Behandlungsmaßnahmen vor – in diesem Moment bedauerte Nicholas, kein Isländisch zu verstehen, denn er hätte gerne erfahren, ob man Toten hierzulande eine Bluttransfusion gönnte – aber der Arzt akzeptierte, dass Rut ablehnte. Auch den Vorschlag „spítali“ verneinte sie. Die Bowlingkugel rollte davon und Joana seufzte erleichtert.
„Ich muss dich um etwas bitten, das dir nicht gefallen wird.“ Auffordernd tippte sie seinem Körper gegen die Brust. „Das wird jetzt sicher wehtun, aber deine schattige Anwesenheit macht aus Ruts Haus einen Clerica-Kühlschrank und ich kann dich auch definitiv nicht zum Hotel tragen. Darf ich bitten?“
9
J
oanas Training begann am nächsten Morgen. Das Hotel, in dem sie sich einquartiert hatten, befand sich nur wenige Hundert Meter von Ruts Haus entfernt und Joana ging allein, vom frommen Wunsch begleitet, Nicholas würde sich nach der gestrigen Verletzung erholen. Dass er dies tun würde, hielt sie allerdings für unwahrscheinlich, zumal die Wunde tatsächlich schon viel besser aussah. Er hatte recht gehabt, sein Körper verfügte über eine erstaunliche Selbstheilung. Eine Ausnahme bildeten einzig die Spuren an seinen Handgelenken. Die durch Handschellen aus einem diamanthaltigen
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