Nybbas Nächte
wieder. Die Daumen in den Jeansbund eingehakt, lehnte er an der Wand und verströmte stille Vorwürfe wie einen herben Geruch.
Er hatte sich gewiss Sorgen gemacht, weil sie sich nicht mehr im Zimmer befand, als er zurückgekommen war. Wahrscheinlich war er aus gutem Grund sauer, aber für den Moment war ihr selbst das egal. Sie ignorierte seine ablehnende Art ebenso wie Demjan, der in etwa zwei Metern Entfernung wartete, trat an Nicholas heran, lehnte sich an seine Brust und vergrub das Gesicht an seiner Schulter. Erst nach langem Zögern gab er ein fragendes Geräusch von sich.
„Ich habe meine Tante angerufen“, flüsterte sie und spürte, wie er einatmete und die Luft anhielt. Natürlich gefiel ihm das nicht. Er hatte ihr oft genug gesagt, sie solle nichts riskieren und keinen Kontakt aufnehmen. Doch der Wunsch nach einer Aussprache sowie die naive Hoffnung, Agnes würde es mit etwas Abstand verstehen, war zu groß gewesen.
„Du hattest recht“, sagte sie resigniert. „Du hast immer gesagt, es sei eine Scheißidee, sie anzurufen, und du hattest recht.“
Er stieß die Luft aus und legte ihr endlich eine warme Hand in den Nacken. Mehr nicht. Er schwieg in solchen Situationen grundsätzlich und Joana schätzte diese Eigenart an ihm, war sie auch eine seiner unmenschlichsten. Welcher Mensch konnte schon ohne ein Wort in bitteren Gefühlen schwelgen, ohne auch nur zu versuchen, diese zu beeinflussen? Ob es Wut war, Trauer oder Verzweiflung, Nicholas fühlte diese Emotionen mit ihr, ohne zu lenken oder zu bremsen. Er war einfach nur mit ganzer Aufmerksamkeit bei ihr, viel intensiver als auf körperliche Weise, und gab ihr damit die Gewissheit, richtig zu fühlen.
Joanas Enttäuschung schwoll zu traurigem Zorn an, fand ihren Höhepunkt in einer einzelnen Träne, die sich über ihre Wange stahl, um dann langsam etwas abzuflauen. Sie trat einen Schritt zurück und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht.
Erst danach erinnerte sie sich wieder an Demjan, der spätestens jetzt nicht mehr daran zweifeln konnte, dass sie doch mehr als eine Leibwächterin war. Als ob er ihnen das je abgekauft hätte.
Nicholas räusperte sich. „Du wolltest auf mich warten.“ Sein Blick, den er einen Wimpernschlag lang abfällig auf Demjan richtete, war nach wie vor frostig.
„Muss ich dich um Erlaubnis fragen, wenn ich das Zimmer verlassen will?“, gab sie mit gesenkter Stimme zurück.
„Wenn du nicht in Schwierigkeiten stolpern willst, solltest du das tun.“
„Pft.“ Joana verdrehte die Augen. „Ich pass schon auf mich auf.“
„Ja, klar.“ Nicholas zupfte fester als notwendig an dem zerfetzten Saum ihres Pullovers, sodass dieser noch weiter aufriss. „Ich sehe es.“
„Ich bin an einer dieser Figuren aus Bronze hängen geblieben.“ Unauffällig durchatmend hoffte sie, dass Demjan die Lüge nicht verraten würde. Täte er es, würde er sich selbst in Schwierigkeiten bringen, daher war sie sich seines Schweigens sicher. Mehr noch, der Russe hielt zu ihr.
„Du brauchst dich nicht zu sorgen, Nicholas. Ich garantiere, dass Joana in meiner Festung sicher ist. Es ist doch verständlich, dass sie bei all der Aufregung und dieser fremdartigen Umgebung den Kontakt zu ihrer Familie braucht.“
Er lächelte und Joana erwiderte es dankbar, worauf sich Nicholas’ Miene noch verfinsterte.
„Ich würde es begrüßen, wenn wir uns in unsere Gemächer zurückziehen dürften“, gab er geschwollen zurück. Seine Stimme troff vor Süffisanz. „Natürlich nur, wenn es den Herrschaften recht ist und ich kein nettes Stelldichein unterbreche.“
Demjan spielte die Posse gelassen mit und deutete eine überhebliche Verbeugung an. „Ich lasse euch eine Kleinigkeit zum Abendessen bringen. Natürlich könnt ihr euch auch zu uns in den Speiseraum gesellen, doch sollte es euch lieber sein, den Abend allein zu verbringen …“
„Sei dir sicher“, unterbrach Nicholas ihn barsch. „Es ist uns lieber.“
Nur eine Sekunde flackerte ein Fünkchen Verärgerung in Demjans Augen, dann hatte er sein Gesicht wieder fest im Griff. „Selbstverständlich. Ich werde einen vertrauenswürdigen Mann auf eurem Gang postieren. Was immer ihr braucht, scheut euch nicht, ihn darauf anzusprechen. Ich wünsche einen angenehmen Abend.“ Damit wandte er sich ab und stolzierte von dannen, als schliffe ein bodenlanger Umhang hinter ihm her.
Auch Nicholas drehte sich um und ging in so langen Schritten den Gang entlang, dass sie beinahe
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