Nybbas Nächte
bemerkte das erschrockene Zucken ihrer Lider, die sie nicht öffnete. Auf ihrer Wange klebte ein großes Pflaster. Weiß. Und dann sah er die Gurte. Breite, weiße Gurte, mit denen man sie auf Höhe der Knie, der Hüften und der Ellbogen am Bett festgebunden hatte.
„Wir mussten sie fixieren“, flüsterte die Ärztin. Die Entgleisung seiner Gesichtszüge war ihr nicht entgangen. „Das sieht schlimmer aus, als es ist. Es ist zu ihrem eigenen …“
„Machen Sie sie los.“ Nicholas erkannte seine eigene Stimme kaum, so rau und unwirklich erschien sie ihm.
„Hören Sie, Frau Sievers hat sich versucht, die intravenösen Zugänge herauszureißen, sie …“
„Losmachen. Sofort!“
Die Asiatin versuchte sich an einem strengen Gesichtsausdruck. „Vielleicht sollten Sie besser gehen, Sie scheinen mir nicht zu verstehen, dass …“
„Sie werden gehen!“ Nicholas rang mit seiner Beherrschung und konzentrierte sich ganz auf seine mentale Stimme. Verschwinde! Geh an deinen Computer und lösche die Akte von Joana Sievers. Vergiss uns!
Kopfschüttelnd entfernte sich die Frau und murmelte etwas von „überarbeitet“.
Tomte nickte knapp in Richtung Joanas Bett. „Geh. Ich halte Wache.“
Nicholas betrat das Krankenzimmer zögerlich. Joana war unter der dicken Decke und dem Pflaster in ihrem Gesicht kaum auszumachen. Sie so zu sehen, zerriss etwas in ihm. Sie hatten sie gefesselt.
Gebannt.
Das Wort ätzte sich in sein Hirn und ließ sich nicht verdrängen. Er milderte die lähmende Wirkung, die es auf ihn hatte, indem er eine Salve an brutalsten Vergeltungsfantasien durch seinen Kopf jagte.
„Jo?“ Er berührte einen der Gurte. Sie waren aus einem elastischen Material und nur sanft gestrafft. Mit den Fingerspitzen folgte er ihnen bis unter die Bettkante, wo sie mit Ösen eingehakt waren. Langsam löste er alle drei Gurte. „Joana. Ich bin hier, hörst du?“
Er berührte ihren Oberschenkel und plötzlich zuckte ihr Körper wie von einem Stromstoß getroffen zusammen. Sie schrak mit einem Schrei hoch. Schlug kraftlos nach ihm. Er ließ es zu, fasste sie nur an den Schultern und zog sie an sich.
„Jo, ich bin’s. Alles okay, alles …“
Alles gelogen.
Sie bebte, als würden Krämpfe sie schütteln, ihre Emotionen nichts als ein heilloses Durcheinander aus Angst und Unverständnis. Es dauerte eine Weile, bis sie halbwegs bei sich schien und ihn anblinzelte.
„Hey“, sagte er leise. „Bist du in Ordnung? Hast du Schmerzen?“
„Nicholas.“
Das Wort klang, als wäre ihre Zunge geschwollen. Ihre Pupillen waren winzig und die Haut unter dem weißen Pflaster, das fast ihre ganze Gesichtshälfte bedeckte, aschfahl. Sie schüttelte den Kopf, als wunderte sie sich über die Frage. Zumindest schienen die Schmerzmittel zu wirken.
„Wo bin ich?“ Sie griff mit der verbundenen rechten Hand nach dem Zugang in ihrer linken Armbeuge. „Es ist so kalt.“
Sie hätte sich die Kanüle gewaltsam aus der Haut gerissen, wenn Nicholas ihre Hand nicht festgehalten hätte. Vorsichtig entfernte er das Heftpflaster, zog den feinen Plastikschlauch aus ihrem Arm und drückte den Einstich mit dem Daumen zu. Die Infusionslösung floss in einem dünnen Rinnsal auf den Fußboden.
Er erzählte ihr das Wenige, das er von Tomte und der Ärztin erfahren hatte und entwirrte dabei ihre Haare,nur um sie zu berühren. Joana begriff nur langsam. Offenbar wirkte sich das Beruhigungsmittel noch stark auf sie aus. Sie starrte auf den Kunstdruck, der ihr gegenüber an der Wand hing. Ein Landschaftsbild nach der Art eines Monets, jedoch wesentlich greller.
Als Nicholas ihr alles gesagt hatte, schlug sie die verbundene Hand vors Gesicht und stöhnte. „Wie konnte ich so dumm sein. Ich glaubte, es wären Clerica und sie wollten mich … ich dachte, sie hätten mich in ihrer Gewalt und …“ Ihre Stimme brach, sie grub die Hände in ihren Schoß. „Gott, langsam werde ich verrückt.“
Nicholas berührte den Rand des Pflasters, strich über ihre Schläfe. „Du wurdest von diesen halbdämonischen Bastarden angegriffen. Jeder würde die Nerven verlieren.“
„Wie dumm von mir, meinen Namen gesagt zu haben. Wie konnte das passieren?“
„Mach dir keine Sorgen, wir regeln das.“
Sie sah ihn verzweifelt an, Scham in den Augen. „Ich bin halb wahnsinnig geworden vor Angst. Ich habe die Kontrolle verloren. Die Ärzte wollten mir helfen und ich habe gegen sie gekämpft, als würden sie mich umbringen. Ich glaube, dass ich jemanden
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