Nybbas Nächte
wenn es an der Zeit ist.“
„Was weißt du von Schuld? Du sagst immer, dass du nie etwas bereust.“
Das stimmte bis zum gestrigen Abend. Nicholas musste sich räuspern. „Schuld zu empfinden und zu bereuen ist nicht dasselbe.“
Sie schüttelte den Kopf, wirre Hoffnung versprühend. „Kannst du mir die Angst nicht nehmen? Nur diese eine, dieses eine Mal?“
Ohne sich bewusst dazu entschieden zu haben, fand er ihre unversehrte Hand in seiner und ihre Fingerknöchel an seinen Lippen.
„Jo, Emotionen sind wie Blut. Ich könnte dir das ganze Blut nehmen, jeden einzelnen Tropfen. Aber die Wunde“, er streichelte ihren Bauch, „würde weiter schwelen und dich vergiften. Lass es bluten, das hilft.“
„Tust du das selbst auch?“
Sie presste die Lippen zusammen, sah fast ein wenig trotzig aus. Wenn die Medikamente ihre Bewegungen nicht träge gemacht hätten, wäre ihm ihr knapper Blick an seine vernarbten Handgelenke vielleicht nicht aufgefallen. Er rieb die prickelnden Stellen, an denen die alten Wunden sein Tattoo zerfurchten.
„Ich“, sagte er leise, „verbringe meine Tage und Nächte mit einem der wenigen Menschen, die jederzeit meine ganz persönliche Hölle heraufbeschwören können. Ich könnte nicht mehr bluten, Joana.“
Bevor er weitersprechen konnte, klopfte es an der Tür und Tomtes Wuschelkopf erschien. „Ich störe ungern, aber hier kommt langsam Leben in die Bude. Die Schwestern machen ihre Morgenrunde, vielleicht sollten wir jetzt verschwinden.“
„Wir verschwinden? Wir alle?“ Joana stützte sich im Bett hoch und biss die Zähne zusammen, als sie eine schmerzende Stelle bewegte. „Dann glaubst du mir endlich? Dass ich dich nie betrügen würde?“
Nicholas ließ ihre Bemerkung an sich abprallen wie Wasser von einer Wachsschicht. „Wir verschwinden“, wiederholte er lediglich. Da er nicht wusste, wo man Joanas Kleidung aufbewahrte, griff er nach einem giftgrünen Morgenmantel, der vergessen an der Tür hing, und reichte ihn ihr.
„Hör mir zu. Ich werde ein paar Menschen manipulieren müssen, damit wir gehen können, ohne Aufsehen zu erregen. Wenn ich die Erinnerungen an dich aus möglichst vielen Köpfen löschen kann, erfährt vielleicht niemand, dass du hier warst. Aber ich brauche deine Hilfe. Es ist schwer, mehrere Menschen gleichzeitig zu manipulieren und ich kann es nicht, wenn deine Angst mich so sehr einnebelt.“
Sein Blick klebte an dem Pflaster in ihrem Gesicht und immer noch wagte er nicht, sich vorzustellen, welche Verletzungen unter ihren Verbänden warteten. Unter anderen Umständen hätte er sie im Krankenhaus gelassen, aber nachdem man ihren Namen kannte, war das zu gefährlich.
„Deine Angst raubt mir die Konzentration. Schaffst du es, ruhig zu bleiben und an etwas anderes zu denken?“
Sie sah ihn an, als verlangte er Unmögliches, aber dann nickte sie und kämpfte sich auf nackten Füßen auf die Beine, wobei sie sich am Bett festhalten musste. „Ich versuche es. Ich kann gehen.“
Nicholas schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“ Zunächst legte er ihr seine Jacke um. Sie knickte unter dem Gewicht des dicken Rindsleders fast ein. Kurzerhand hob er sie hoch. „Reiß dich zusammen. Deine Gefühle machen mich wahnsinnig. Schließ sie ein, ein paar Minuten nur, ich brauche jetzt einen kühlen Kopf.“
Tränen füllten ihre Augen. „Ich kann nicht.“
„Jo!“ Nicholas unterdrückte ein Stöhnen. „Du kannst. Du willst nämlich nicht, dass ich den ganzen Laden hier in die Luft sprenge, um unsere Spuren zu verwischen.“
Für einen Moment erstarrte sie, überdachte sichtlich, ob er das ernst meinte und kam zu den richtigen Schlüssen. Sie presste die Lippen zusammen, drückte das Gesicht an seine Schulter und gab sich alle Mühe, keine Furcht zu empfinden, während er sie den Gang entlangtrug und dabei allen Menschen befahl, ihren Anblick sofort wieder zu vergessen. Nach wenigen Schritten schon standen ihm vor Anstrengung kleine Schweißperlen auf der Oberlippe. Ein hochgewachsener Arzt mit ergrauten Schläfen stellte sich als zu widerstandsfähig heraus und rief etwas auf Isländisch. Joana erzitterte in Nicholas’ Armen und brachte seine Konzentration ins Wanken.
„Was hat er gesagt?“, hauchte sie erschrocken.
Nicholas warf Tomte einen warnenden Blick zu, der verstand und log.
„Nichts, was uns betrifft. Ähm, er meckert, weil …“
„Weil die letzte Patientin ihm einen Korb gegeben hat“, improvisierte Nicholas. „Sie findet
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