Nybbas Träume - Benkau, J: Nybbas Träume
angeboten, zu reden. Sie war nie darauf eingegangen. Egal was passiert war, und es bestand kein Zweifel, dass etwas passiert war, er würde es ihr bestimmt sagen, wenn er soweit war.
Lillian eilte mit flinken Schritten durch die Straße. Sie zog Blicke auf sich, das wusste sie. In diesem Neubaugebiet, bevölkert von jungen Familien, gab es kaum eine Frau, deren Kleidung nicht von klebrigen Kinderhänden beschmiert war. Den meisten sah man den Stress und die Eintönigkeit des Lebens an, selbst wenn man nicht in der Lage war, in ihren Gesichtern zu lesen, wie Lillian es durch die langen Jahre ihres Lebens gelernt hatte. Ihr Kleid flatterte blütenweiß um ihre schlanken Waden und in ihrem schulterlangen Haar spielte die Sonne und zauberte goldene Strähnen in das Rot. Das allein reichte, um die Menschen dazu zu bringen, ihr mit offenem Mund hinterher zu starren. Doch auch in Lumpen wäre sie auffällig gewesen, denn in ihr pulsierte das Leben und ließ ihr Inneres leuchten. Freilich nicht ihr eigenes Leben. In ihr leuchtete der Prozess, mit dem sie das Blut ihres Opfers zu ihrem eigenen machte. Ganz langsam, Tropfen für Tropfen, jeder davon ein Ton. Gemeinsam spielten sie eine Symphonie, eine Operette, die von ihrem Leben erzählte. Bis sie wieder trinken musste.
Manchmal suchte sie Orte wie diese auf, weil sie einen neuen Menschen brauchte, der ihr dieses Leben gab. Durch seine Liebe, in erster Linie aber durch sein Blut. Doch ihr aktueller Ernährer würde sicher noch ein paar Wochen überdauern.
Heute suchte sie etwas anderes. Sie folgte einem Ruf. Einem klagenden Hilfeschrei. Irgendwo zwischen diesen Häusern, die alle von der gleichen Fläche penibel gemähter Wiese umgeben waren, verbarg sich ein ihr verbundenes Wesen. Es litt.
Lillian eilte an bunt bepflanzten Vorgärten vorbei und beachtete keinen der Menschen, die hinter geblümten Gardinen und Fensterbildern nach draußen lugten, weil sie ihre Anwesenheit spürten. Unauffällig zu bleiben war ihr noch nie gelungen. In ihrer Heimat, den Bergen Japans hatte man einst zu ihr gebetet, ihr Tempel gebaut und Opfer gebracht. Freiwillige Opfer, die der Nabeshima gerne ihr Blut gegeben hatten. Die mit Freuden für sie gestorben waren. Doch jene Zeiten waren vorbei. Dieser Tage brachte ihre auffällige Präsenz Gefahr mit sich, da sie auch die Clerica misstrauisch machte, wenn sie ihren Weg durchZufall kreuzten. Sie verließ das Haus daher nur selten allein. Doch manchmal konnte sie die Rufe nicht ignorieren, die ihren Geist so oft erreichten. Die Schreie ihrer kleinen Brüder und Schwestern.
Zwischen zwei Einfamilienhäusern – wie alle in dieser Straße waren sie aus rotem Backstein, mit weißen Fensterläden, als wäre es Frevel, von diesem Muster abzuweichen – drang der erste hörbare Ruf an ihr Ohr. Selbst im menschlichen Leib war ihr Gehör weit besser ausgebildet, als das der meisten anderen und wenn sie es darauf anlegte, hörte sie so gut wie eine Raubkatze. Eine Gabe, die ihr den Schlaf erschwerte und sie selten zur Ruhe kommen ließ. Aber auch eine Fähigkeit die ihr half; die sie nun das Weinen vernehmen ließ.
Sie flankte mit einem eleganten Sprung über einen Zaun hinweg und näherte sich einer Gartenhütte. Rasch huschte ihr Blick zum Wohnhaus, doch hinter den Gardinen bewegte sich nichts und sie hörte kein Geräusch jenseits der Mauern. Die Bewohner waren nicht da. Vermutlich war das deren Glück.
Sie öffnete die Tür der Gartenlaube. Dunkelheit und panische Angst erfüllten sie und drängten hinaus ans Licht. Sie weitete ihre Pupillen, um besser sehen zu können, und schloss die Tür hinter sich. Ein kehliges, gequältes Knurren zog sie zu einer Holzkiste. Der Deckel wurde von einem Werkzeugkasten beschwert.
Ganz ruhig, ich helfe dir!
, ließ sie die Gefangene still wissen. Das Tier verstummte. Lillian öffnete den Deckel der Kiste und hob die grau getigerte Katze vorsichtig heraus. Sie stöhnte leise, als das Tier ihr durch Bilder und Gefühle erzählte, was ihm zugestoßen war.
Kinderhände. Streichelnd und sanft. Aber so viele. Zu viele. Zudringlich. Grob. Sie wollte weglaufen, wurde gehalten. Laute Stimmen. So laut. Wieder Hände. Sie ließ es nicht länger zu. Blutige Striemen in einem der felllosen Gesichter. Dann Geschrei. Eine Hand grob in ihrem Nacken. Schläge auf ihren Körper. Dann die Enge der Kiste.
Wut flammte in Lillian auf. Der Wunsch, die Nabeshima zu entfesseln und diesen Menschen zu zeigen, was es bedeutete, klein
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