Nybbas Träume - Benkau, J: Nybbas Träume
Volk denken ließ. Ein mageres Pferd tastete mit den Lippen nach trockenen Grashalmen.
Etwas abseits ragte eine einsame Korkeiche auf dem mit verdorrten Farnen und Flechten überzogenen Boden in die Höhe. An ihre knochigen, ineinander verschlungenen Wurzeln saß ein junger Mann gelehnt. Seine Hände waren gefesselt, sein Kinn lag kraftlos auf der nackten Brust. Joana erschrak. Im ersten Moment sah sie in dem Mann das jüngere Abbild Nicholas’. Doch die Ähnlichkeit war nur oberflächlicher Natur. Das strähnig in die Stirn hängende Haar war nicht tiefschwarz, sondern dunkelbraun, und schimmerte im Licht der untergehenden Sonne rötlich. Das Kinn war breiter, die Gesichtszüge härter, obgleich er allenfalls zwanzig Jahre jung war. Sein Teint war fahl, fast grün, und seine Augen von tiefen Schatten umrandet. Schweiß bedeckte seinen Körper.
Die Frau glitt mit langsamen Schritten auf ihn zu. Die Messingringe um ihre Unterarme und Fußgelenke schlugen zusammen und untermalten mit leisem Scheppern ihre Bewegungen.
„Loris!“, rief sie ihn mit schmeichelnder Stimme. Sie hob sein Kinn an, streichelte den Schweiß von seiner Stirn. Er öffnete stöhnend die Augen und sie lächelte ein warmes Lächeln in einem Gesicht, das die Jahre allenfalls härter gemacht hatten. Schön war sie trotzdem, mit der sonnengebräunten Haut und den dunklen Augen.
„Mutter?“, keuchte er. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, er krampfte sich um seine Mitte zusammen. Auch er sprach diese unbekannte Sprache, doch Joana verstand ihn, als würde jemand seine Worte in ihrem Kopf übersetzen.
„Ich bin es, mein schöner Loris.“
„Was hast du getan?“ Er zerrte kraftlos an den Fesseln, die seine Hände hielten. „Mutter!“
„Es war Gift, mein Sohn. Starkes Gift. Aber hab keine Angst. Gleich ist es vorbei und du gehst deinen Weg zu Gott.“
„Was?“ Sein Kopf ruckte hin und her. „Nein! Mutter! Du kannst doch nicht …“
Ihr Lächeln bekam etwas Hässliches. „Einundvierzig Jahre, mein liebster Sohn, habe ich nur für die Familie gelebt. Erst meinem Vater gehorcht und dann deinem. Das ist nun vorbei. Ich werde meinen eigenen Weg wählen und meine eigenen Befehle geben. Loris, ich habe einen Dämon aus dem Schattenreich zu mir gerufen. Er ist bereits hier und wartet auf sein Opfer. Auf dich.“
„Nein!“ Der junge Mann brüllte panisch auf, als die Frau ein Messer aus den Falten ihres Rockes zog. „Nein, tu das nicht! Warum? Warum ich?“
Sie schob die ausgefransten Ärmel ihrer Bluse hoch und entblößte Henna-Malereien auf ihren Unterarmen. Joana erkannte die flammenden Wellen sofort. Entsetzen packte sie. Diese Hexe würde ihren eigenen Sohn töten, um den Dämon zu beschwören und in seinen Körper zu zwingen.
„Du gehörst mir, Loris. Ich habe dir dein Leben geschenkt. Ich werde es dir wieder nehmen. Um neues Leben daraus zu schaffen. Ewiges Leben. Er wird schön sein, so schön wie du. Aber er wird ganz allein mir gehören. Er wird mir gehorchen und so sein, wie ich ihn rufe. Er wird mächtig sein, weil ich ihn erschaffen werde, aus meinen Träumen und Wünschen!“
„Nein, Mutter! Bitte nicht! Bitte!“
Die Schreie nützten ihm ebenso wenig wie die Versuche, von ihr fort zu robben. Sie griff ungerührt in sein Haar und stieß ihm das Messer dicht neben der Wirbelsäule in den Rücken. Ein gellender Schrei schreckte Vögel auf. Sie zog die Klinge langsam wieder aus seinem Fleisch und der Blutstrom bahnte sich sogleich den Weg über die zuckende Muskulatur. Sie hob das Messer erneut und rammte es in den oberen Schulterbereich. Tränen liefen dem jungen Mann über das Gesicht. Er schrie wie ein Tier, bettelte um sein Leben, doch sie schlug wieder und wieder zu. Die Stiche waren genau platziert, sie hatte nicht vor, ihn damit zu töten. Sie wollte ihn nur schwächen. Hätte Joana einen Körper gehabt, wäre ihr übel geworden. Blut sickerte aus den Wunden, vermischte sich mit seinem Schweiß und tropfte zu Boden. Er wand sich unter Schreien, die irgendwann mehr der Angst entwuchsen, als dem Schmerz. Schließlich wurde das Brüllen zu einem schwachen Wimmern und die Fluchtversuche zu verzweifeltem Zittern. Sich schutzsuchend zusammengerollt, verbarg er das Gesicht hinter seinen gebundenen Händen und betete stimmlos.
Die Frau sah ihm eine Weile mit ernster Miene zu. Nun glitt ein erneutes Lächeln über ihre Lippen. Ihre Blicke huschten herum, die Schatten der Eiche absuchend. Sie lief zum Feuer, entzündete
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