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O du Mörderische

Titel: O du Mörderische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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es meiner Erinnerung nach sogar noch mehr Graffiti gab. In diesem Raum hatte
     der Maler sich nicht einmal mehr bemüht, Wörter zu schreiben. Rote, blaue und grüne Farbstriche zogen sich quer über die Wand,
     durchkreuzten sich, bildeten Schleifen. Und dann die kleine, fast bukolische Szene, die der Vandale in all diesen Wahnsinn
     mit eingebaut hatte. Ich kniete mich nieder, schob meine Bifokalbrille nach vorn auf die Nasenspitze und studierte sie ein
     weiteres Mal.
    Das Licht war diesmal besser, so daß ich mehr Details ausmachen |272| konnte. Eine rothaarige Frau saß auf einem Feld und malte drei Bilder, die alle drei ein liegendes weibliches Wesen mit dunklem
     Haar zeigten. Hielt sie nicht irgend etwas in der Hand?
    Ich benötigte mehr Licht. Ich warf einen Blick in Claires Schlafzimmer, aber die Badezimmertür war nach wie vor geschlossen.
     Doch ich würde sicher eine Taschenlampe in einer Küchenschublade oder in der Garage finden.
    Dem war auch so. Claires Krimskramsschublade war an der gleichen Stelle wie bei mir, es war die kleine rechts von der Spüle.
     Ich nahm mir eine gelbe Taschenlampe und überprüfte, ob sie funktionierte. Tat sie. Als ich die Schublade gerade zumachen
     wollte, entdeckte ich jedoch exakt, was ich brauchte, nämlich ein kleines, beleuchtetes Vergrößerungsglas, genau so eines,
     wie Fred es besaß. Es lag oben auf dem Telefonbuch. Claire würde also bald eine Lesebrille benötigen. Oder brauchte bereits
     eine.
    Ich nahm sowohl die Taschenlampe als auch das Vergrößerungsglas mit nach oben.
    »Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte ich Claire, die in der Mitte ihres Schlafzimmers stand.
    »Ich glaube schon. Haben sie in dem anderen Zimmer genauso gewütet?«
    »Ja.«
    »Gütiger Gott.« Sie bemerkte die Taschenlampe. »Was haben Sie denn damit vor?«
    »Mir hier drin etwas anschauen. Wollen Sie es sehen?«
    »Nein danke. Ich will nur noch hier raus.« Sie zog eine Schublade auf und nahm ein paar Wäschestücke heraus. »Ich hab’s gleich.«
    »Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen.« Ich ging ins andere Zimmer hinüber und kniete mich erneut vor dem Bild nieder. Irgendwie
     wußte ich, daß ich es hier mit etwas Wichtigem zu tun hatte. Die Farbstriche und auch die Wörter hinzupinseln |273| hatte nur ein paar Minuten gedauert, aber dieses kleine Bild hatte Zeit beansprucht. Und eine gewisse Fertigkeit. Ich knipste
     die Taschenlampe an und lehnte sie gegen einen zierlichen Korbtisch, so daß ihr Strahl direkt auf das
    Bild schien. Dann knipste ich das Lämpchen an dem Vergrößerungsglas an.
    Das konnte nur Mercy sein, die da auf dem Feld saß und die drei Ölgemälde malte. Sie wandte sich dem linken der drei Gemälde
     zu, so daß ihr Gesicht im Profil zu sehen war. Auf allen drei Bildern malte sie Claire oder eine der Zwillingsschwestern.
     Die Gemälde waren jedoch identisch: Immer lag auf einer Bahre eine dunkelhaarige Frau in einem weißen Kleid und hielt eine
     weiße Blume umklammert. Waren die Frauen tot? Ich hielt das Vergrößerungsglas näher davor, aber es waren keine Gesichtszüge
     zu erkennen.
    Ich studierte das Bild in dem sicheren Gefühl, daß es etwas zu bedeuten hatte. Aber was? Sollte das Silber unterhalb der Figuren,
     die Mercy malte, Wasser sein? Befanden sie sich an einem Fluß? Und war das ein Schloß im Hintergrund? Die Gestalt, die Mercy
     darstellte, trug eine lange, fließende blaue Robe, die geradezu majestätisch wirkte.
    Nun gut. Ich trat ein Stück zurück und fing noch einmal von vorn an. Es war ein Bild, auf dem Mercy drei Gemälde malte, augenscheinlich
     von Claire und den Zwillingen. Nur, weshalb sollte jemand, der gekommen war, um die Wohnung zu verwüsten, sich die Zeit für
     so etwas genommen haben?
    Also noch mal. Das war eine Botschaft. Mercy wünschte sich den Tod der Needham-Mädchen. Aber Mercy war vermutlich bereits
     tot oder lag im Sterben, als dieses Bild hier gemalt wurde. Falsche Fährte. Oder vielleicht war Mercy vor der Galerieeröffnung
     hier hergekommen und hatte es selbst gemalt. Das war theoretisch möglich, ergab aber nicht viel Sinn.
    »Ich bin fertig«, rief Claire aus dem Flur. »Ich warte draußen auf Sie. Ich brauche ein wenig frische Luft.«
    |274| »Ich komme.« Ich griff in meine Handtasche, fand einen Umschlag und fertigte auf seiner Rückseite eine grobe Skizze des Gemäldes
     an. Eine äußerst grobe. Ich kritzelte auch ein paar Notizen darauf, wie etwa »weiße Blume«, damit ich es nicht

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