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Ob das wohl gutgeht...

Ob das wohl gutgeht...

Titel: Ob das wohl gutgeht... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Tibber
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sehe ihn«, fuhr Fred fort, »betrachte ihn, wie er ist, objektiv, nicht entstellt durch meine eigenen Wünsche und Vorstellungen. Ich kenne ihn, ich habe seine Oberfläche durchdrungen, bin in sein Inneres vorgestoßen und habe meine Seele mit der seinen verbunden.« Er schnitt sich ein weiteres Stück Wurst ab und spülte es mit einem Schluck Kaffee hinunter.
    Faraday machte große Augen.
    »Ich wiederhole«, sagte Sylvia, hob resigniert die Speisereste auf, die Eugenie von ihrem Teller auf den Boden geworfen hatte, und stellte resolut Lulus Transistorradio ab, »daß er nichts weiter als Nasentropfen wollte.«
     

10
     
    Die nächsten Monate vergingen in fieberhafter Tätigkeit und waren von ständigen Alpträumen begleitet. Das Lorbeerbaumhaus war über Nacht aus dem Nichts in der vollen Pracht von fünf Stockwerken erstanden. Sylvia war durch zitronengelbe Geländerseile und schmucke Gewürzgestelle so in Anspruch genommen, daß sie sich weder um das Haus noch um die Patienten oder die Kinder kümmerte; Fred hielt jeden zweiten Morgen im Wartezimmer Yoga-Kurse ab, so daß Leute, die nur gekommen waren, um sich Schlaftabletten verschreiben zu lassen, plötzlich unversehens kopf-
    stehen mußten. Faradays Haus war bezugsfertig, aber ein durch seine Krankheit ausgelöster Fieberanfall machte seinen Umzug unmöglich und fesselte ihn in unserem Gästezimmer ans Bett; Lulus Ehemann befand sich in Leningrad, sie war solange in unsere Diele umgezogen, stand aber ständig im Badezimmer, um sich ihre falschen Augenwimpern wieder festzukleben; Hank hatte uns mit seiner Violine dem Nervenzusammenbruch nahe gebracht; die Zwillinge fühlten sich in dem Chaos leider pudelwohl, und Eugenie, die völlig aus ihrem geordneten Tagesablauf geworfen worden war, trug Tag und Nacht das Ihre zu dem Aufruhr bei. Vielleicht wäre alles nicht so schlimm gewesen, hätten wir etwas Ordentliches zu essen gehabt, aber Caroline, die sich aus Dankbarkeit für die ihrer Familie erwiesene Gastfreundschaft zum Küchendienst bereit erklärt hatte, um Sylvia zu entlasten, versorgte uns bis zum Überdruß mit Bergen von Naturreis, Sellerieauflauf und Hollywood-Salat. Wir hatten entsetzliche Verdauungsstörungen, waren ständig hungrig und flüchteten, sooft wir nur konnten, ins nächste Restaurant.
    Man könnte es erstaunlich finden, daß die Praxis unter diesen Umständen überhaupt noch florierte. In den Anfängen meiner Praxis hatte mich jede Abweichung von dem Üblichen besorgt gemacht, daß die Patienten a) sich darüber aufregen, b) meine Praxis meiden und c) einen Bericht über mein Verhalten an die zuständige Aufsichtsbehörde geben könnten. Ich hatte jedoch in all den Jahren erkannt, daß nichts außer einer direkt kriminellen Fahrlässigkeit Beachtung fand. Im Gegenteil: je seltsamer die Vorgänge im Haus oder in der Sprechstunde waren, desto größer schien die Neigung, in meine Praxis zu kommen. Meine anfänglichen Zweifel wegen Fred hatten sich völlig gelegt. Der riesige Zustrom von Patienten, die ihn anhimmelten, hatte mich beruhigt, und ich war glücklich, als ich entdeckte, daß meine noch stärkeren Zweifel, die ich wegen Lulu gehabt hatte, ebenfalls völlig grundlos gewesen waren. Es war klar, daß ich die Zeit nicht mehr ganz verstand. Sie arbeitete nicht so exakt wie Miss Hornby und spielte nicht, wie Miss Simms, im Wartezimmer den Feldwebel, dafür liebte sie die Patienten, und die Zusammenarbeit zwischen ihr und Fred funktionierte auf der freundschaftlichsten Basis. Es lag vermutlich daran,
    daß sie sehr natürlich war und sich nicht scheute, ihre Fehler zuzugeben; die Patienten jedenfalls waren bereit, ihr die merkwürdigsten Schnitzer zu verzeihen, die sie beim Ausschreiben der Rezepte machte oder, wenn sie, mit den Gedanken bei der endlosen Popmusik, ihnen ungültige Bescheinigungen ausstellte. Sie unterhielt sich über Mini-Röcke und Make-up mit den Mädchen, sie flirtete mit den Jungen, verhätschelte die alten Damen und zog die Augen der älteren Herren auf sich. Am meisten jedoch liebte sie die Kinder, da es doch ihr Herzenswunsch war, auch Mutter zu werden. Sie sorgte rührend für die winzigen Babies, die zum Impfen gebracht wurden, spielte mit den Schreihälsen, die sonst die Wartenden zermürbten, und unterhielt sich mit großen, neiderfüllten Augen mit den Müttern über passierten Spinat, das Nachmittagsschläfchen und die optimale Schlafdauer. Es gehörte »zum guten Ton«, die moderne Generation einer

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