Obduktion

sehen. Kurze Zeit später kam sie mit einer Akte zurück und reichte sie Jack. »Hier ist die erste, damit Sie schon mal anfangen können.«
    Jack öffnete die Akte und blätterte durch den Bericht der Rechtsmedizin, das Autopsieprotokoll, den Autopsiebericht, das Formular über die telefonische Benachrichtigung der Angehörigen und den Fallbericht, bis er schließlich zum Totenschein vorstieß. Als er das Schreiben zwischen den anderen Papieren hervorzog, sah er, dass die unmittelbare Todesursache genau wie bei Keara Abelard eine Vertebralisdissektion war. In der folgenden Zeile des Formulars »Ausgelöst durch oder als Folge von« stand »chiropraktische zervikale Manipulation«.
    »Perfekt«, sagte Jack zu sich selbst.
    »Hier ist Ihre zweite Akte«, sagte Alida, die von einem entfernter liegenden Gang zurückkehrte. Neugierig öffnete Jack den zweiten Ordner und zog den Totenschein hervor.
    Beim Blick auf die Zeile mit der unmittelbaren Todesursache
las er erstaunt das Wort »Melanom«. Weiter entnahm er dem Formular, dass der Tod die Folge eines Krebsleidens war, das sich bis in die Leber und das Gehirn ausgebreitet hatte. Er begriff überhaupt nicht, warum ihm Margaret diesen Fall geschickt hatte, und wandte sich dem zweiten Teil der Beschreibung der Todesursachen zu. Es gab ein weiteres Formularfeld, betitelt mit »Weitere maßgebliche Todesumstände«. Dort hatte Margaret vermerkt, dass der Tote den Rat erhalten hatte, für einen Zeitraum von sechs Monaten ausschließlich homöopathische Heilmittel zu verwenden.
    »Großer Gott«, sagte Jack.
    »Stimmt etwas nicht, Doktor?«, erkundigte sich Alida.
    Jack schaute vom Totenschein auf, dann hielt er ihn hoch. »Mir sind bei diesem Fall hier gerade die Augen für eine Gefahr der alternativen Medizin aufgegangen, an die ich bisher noch gar nicht gedacht hatte.«
    »Ja?«, fragte Alida. Bei ihrem Job war sie es nicht gewohnt, mit den Rechtsmedizinern ins Gespräch zu kommen. Schon gar nicht, seitdem das Archiv von der Pathologie in das neue Gebäude zur DNA-Abteilung verlegt worden war.
    »Ich dachte bisher, dass Alternativmedizin genau wie die Homöopathie zumindest harmlos wäre, aber das ist nicht der Fall.«
    »Was ist Homöopathie genau?«, wollte Alida wissen.
    Weil Jack in der Nacht zuvor in Gesund ohne Pillen ein ganzes Kapitel zu diesem Thema gelesen hatte, konnte er jetzt eine schnelle Antwort geben, die er sonst nicht parat gehabt hätte. »Bei dieser Methode der Alternativmedizin geht man von der sehr unwissenschaftlichen Vorstellung aus, dass Gleiches von Gleichem geheilt wird. Anders ausgedrückt: Wenn eine Pflanze bei Verzehr Schwindel auslöst, dann kann man mit derselben Pflanze Schwindel
kurieren, wenn man nur eine winzige, verdünnte Menge davon zu sich nimmt. Und ich rede hier von einer Verdünnung, die so stark ist, dass schließlich nur noch ein oder zwei Moleküle der wirksamen Substanz übrig bleiben.«
    »Das klingt ziemlich seltsam«, kommentierte Alida.
    »Das kann man wohl sagen«, lachte Jack. »Aber bisher dachte ich immer, dass es wenigstens harmlos wäre, bis Sie mir diese Akte gegeben haben.« Er wedelte wieder mit dem Totenschein in seiner Hand. »Dieser Fall hier macht deutlich, dass Menschen so stark an die Alternativmedizin glauben können, dass sie dafür die konventionelle Medizin aufgeben. Unter gewissen Umständen könnte aber eine konventionelle Therapie erfolgreich sein, wenn man nur rechtzeitig damit beginnt. So wie bei manchen Krebsarten. Die Sache, die Sie mir hier gegeben haben, ist genau so ein Fall!«
    »Das ist ja furchtbar«, sagte Alida.
    »Stimmt!«, entgegnete Jack. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
    »Sehr gern geschehen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
    »Ich habe gehört, die OCME-Akten sollen digitalisiert werden. Ist damit schon begonnen worden?«
    »Ja, allerdings«, antwortete Alida.
    »Und wie weit ist das fortgeschritten?«
    »Noch nicht sehr weit. Es beansprucht viel Zeit und wir sind nur zu dritt.«
    »Wie viele Jahre haben Sie schon erfasst?«
    »Noch nicht einmal eins.«
    Jack rollte enttäuscht die Augen. »Noch nicht mal ein Jahr.«
    »Es ist sehr zeitaufwendig.«
    »Wie könnte ich alle Akten des OCME nach Fällen
durchsuchen, die in einem Zusammenhang mit Alternativmedizin stehen, so wie die beiden Fälle, die Sie für mich herausgesucht haben?«
    »Ich fürchte, man müsste sich Akte für Akte durcharbeiten, was buchstäblich Jahre dauern könnte, abhängig davon, wie viele Leute man