Obduktion
hatte, es sonst nicht aushalten zu können.
Nach einer halben Stunde Hämmern war Shawn leicht verschwitzt und seine Schultern schmerzten. Da er eine Pause brauchte, legte er die Werkzeuge beiseite und rieb seine schmerzenden Muskeln. Plötzlich verschmolzen die Strahlen seiner Stirnlampe mit denen von Sanas. Zu seinem Erstaunen hatte sie ihren Kopf in den Tunnel gesteckt.
»Wie geht’s voran?«
»Sehr langsam!«, gab Shawn zu. Er wischte mit seinem Handschuh über das mühsam freigelegte Stück Kalkstein. Obwohl er versucht hatte, den Stein mit dem Meißel nicht zu beschädigen, hatte er ihn trotzdem etwa ein halbes Dutzend Mal getroffen. Die Kerben waren als kleine, cremefarbene Stellen auf dem braunen Stein zu
sehen. Als Archäologe tat ihm ein solch rabiates Vorgehen in der Seele weh, aber er hatte keine andere Wahl. Er wusste, dass der Sicherheitsdienst bei seinem Schichtwechsel um elf Uhr die Runde machen würde, und wollte bis dahin lange weg sein. Es war schon kurz vor zehn.
»Glaubst du immer noch, dass es das ist?«, fragte Sana.
»Na ja, lass es mich mal so ausdrücken: Es ist ein verziertes Stück Kalkstein, das hier sicher nicht natürlich gewachsen ist, und es liegt genau an der von Saturninus beschriebenen Stelle. Also was glaubst du?«
Sana fühlte sich von seinem herablassenden Ton angegriffen. Ihre Frage war doch berechtigt, schließlich sah man nur ein flaches Stück Stein. Und wenn man die ständigen Bau- und Umbaumaßnahmen der letzten zweitausend Jahre bedachte, war es sehr wohl möglich, dass mittlerweile irgendein flaches Stück Stein an diesen Platz geraten war, wo sie das Ossuarium vermuteten. Leicht pikiert sprach sie ihre Gedanken aus.
»Ach, du bist also jetzt der Fachmann«, antwortete Shawn sarkastisch. »Hier, ich zeige dir mal was.« Er hielt den Strahl seiner Taschenlampe auf die untere Seite der Steinplatte, wo er versucht hatte, den Stein herauszuhebeln. Die gesamte Ecke war bereits freigelegt. »Fällt dir etwas auf?«, fragte er in dem gleichen abfälligen Ton wie vorhin. »Dein ›flaches Stück Stein‹ ist absolut gleichmäßig. Wenn es Bauschutt aus einem der anderen Projekte wäre, wäre es wohl kaum so gerade und sorgfältig eingelassen worden. Dieses Stück Kalkstein wurde ganz bewusst hier platziert und nicht zufällig.«
»Wie lange noch?«, fragte Sana mit müder Stimme. Zweifellos wusste er ihren Kampf gegen die Klaustrophobie nicht zu schätzen. Wenn sie sich in der Lage gefühlt hätte, diesen Ort allein zu verlassen, so wäre dies der Moment, in dem sie es getan hätte.
Shawn, dessen Blutzirkulation im Schulterbereich mittlerweile wieder in Gang gekommen war, ignorierte ihre Frage und machte sich wieder an die Arbeit. Schnell füllte er den ersten Eimer mit Sand und bat dann um den zweiten. Zwanzig Minuten später hatte er einen etwa zehn Zentimeter tiefen und genauso breiten Spalt gemeißelt, durch den er nun ganz sicher eine Kalksteinkiste sehen konnte. Der Deckel war etwa zweieinhalb Zentimeter dick und mit karamellfarbenem Wachs versiegelt. Da es für den Hammer nun zu eng war, benutze er zunächst den Meißel zum Kratzen und fing dann an, den Sand mit den Händen herauszuholen.
Plötzlich erstarrte er. Er atmete tief durch, als ihm fast das Herz stehen blieb. Gleichzeitig mit dem leisen Brummen des gestarteten Stromgenerators gingen die Lichter in der Totenstadt an.
Kapitel 13
15:42 Uhr, Dienstag, 2. Dezember 2008 New York City (21:42 Uhr, Rom)
J ack hasste sich selbst. Er hatte schon zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen vollständig die Kontrolle über sich verloren. Sein Ausfall gestern bei Ronald Newhouse hatte gezeigt, wie schlecht er mit der Erkrankung seines Sohnes klarkam. Es war ihm peinlich, wenn er sich daran erinnerte, wie er sich im Büro des Chiropraktikers benommen hatte, zumal wenn er bedachte, dass es ja eigentlich Laurie war, die die Hauptlast der Tragödie trug, während er jeden Tag aus dem Haus flüchtete, um auch nur den Gedanken daran zu vermeiden. Und heute schob er seine geistigen Ausfälle letzten Endes seinem vier Monate alten Sohn in die Schuhe. Das war sogar noch peinlicher, als einem chiropraktischen Quacksalber gehörig die Meinung zu geigen. Voller Schuldgefühle versuchte er, sich Lauries Reaktion vorzustellen, wenn sie erfuhr, dass Bingham und Calvin jetzt über JJs Krankheit Bescheid wussten. Obwohl sie nicht ausdrücklich darüber gesprochen hatten, betrachteten sie beide die Situation doch als zutiefst
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