Obduktion
früheren Leben zu stammen schien.
»Ich würde vorschlagen«, sagte James, »dass wir uns so bald wie möglich treffen. Ich weiß, das ist jetzt ein bisschen kurzfristig, aber könntest du dir vorstellen, für ein kleines Mittagessen hier in die Residenz zu kommen?«
»Heute?«, fragte Jack völlig überrascht.
»Ja, heute«, wiederholte James. »Dieses Problem ist mir gerade erst ins Haus geflattert, und ich habe nicht viel Zeit, es zu lösen. Deshalb bitte ich dich doch um deine Hilfe.«
»Na ja«, sagte Jack. »Es ist ein bisschen kurzfristig, und eigentlich war ich schon zum Abendessen mit der Queen verabredet, aber ich kann sie auch anrufen und sagen, dass wir den Termin verschieben müssen, weil die katholische Kirche mich braucht.«
»Ich würde darum bitten, deine Selbsteinschätzung noch einmal zu überdenken. Du hast dich keine Spur verändert. Aber danke, dass du kommen willst. Und danke auch für deinen respektlosen Humor. Wahrscheinlich wäre es das Beste für mich, ein wenig heiterer zu sein, aber ich mache mir große Sorgen.«
»Hat es etwas mit Shawns Gesundheit zu tun?«, fragte Jack. Das war das Einzige, was ihn beunruhigte: eine Krankheit wie Krebs zum Beispiel, weil das zu nahe an seinen eigenen Problemen gewesen wäre.
»Nein, seine Gesundheit nicht, aber seine Seele. Du weißt, wie eigensinnig er sein kann.«
Jack kratzte sich am Kopf. Wenn er an Shawns lockere Sexualmoral auf dem College zurückdachte, dann schien es ihm, als sei seine Seele schon seit seiner Pubertät in
Gefahr, was wiederum die Frage aufwarf, warum es damit heute so eilig war. »Kannst du vielleicht etwas genauer werden?«, bat er.
»Leider nicht«, antwortete James. »Ich würde das lieber unter vier Augen mit dir besprechen. Wann kann ich dich erwarten?«
Jack schaute auf seine Uhr. Es war zehn vor zwölf. »Wenn ich mich jetzt auf den Weg mache, und das könnte ich tun, dann wäre ich in fünfzehn, zwanzig Minuten bei dir.«
»Wunderbar. Ich muss um zwei Uhr zu einem offiziellen Empfang mit dem Bürgermeister. Ich freue mich darauf, dich zu sehen.«
»Ganz meinerseits«, erwiderte Jack, bevor er den Hörer auflegte. James’ Bitte hatte etwas seltsam Irreales. Es war so, als würde der Präsident der Vereinigten Staaten anrufen und sagen: »Komm sofort hierher nach Washington. Das Land braucht dich.« Jack lachte laut auf, griff nach seiner Lederjacke und machte sich auf den Weg in den Keller.
Während er sein Fahrrad aufschloss, bemerkte er, dass jemand hinter ihm stand. Als er sich umdrehte, schaute er in das Bulldoggengesicht seines Chefs Bingham. Wie üblich blickte er grimmig und hatte Schweißperlen auf der Stirn.
»Jack«, begann Bingham, »ich wollte Ihnen noch sagen, wie leid Calvin und mir die Sache mit Ihrem Sohn tut. Weil wir selbst Kinder haben, können wir uns vielleicht ein Stück weit vorstellen, wie furchtbar schwer das sein muss. Vergessen Sie nicht, wenn wir irgendetwas tun können, dann lassen Sie es uns einfach wissen.«
»Danke, Chef.«
»Wollen Sie gehen?«
»Nein, ich schaue hier nur regelmäßig vorbei und schließe mein Fahrrad auf und zu.«
»Sie und Ihre Witze!«, kommentierte Bingham. Er kannte Jack inzwischen gut genug, um sich nicht mehr so beleidigt zu fühlen wie damals, als Jack neu zum OCME-Team kam. »Ich gehe davon aus, dass Sie sich nicht mit einem Chiropraktiker-Kumpel zum Essen verabredet haben.«
»Da vermuten Sie ganz richtig«, sagte Jack. »Ich treffe auch keinen Akupunkteur, keinen Homöopathen und auch keinen Kräuterkundler. Aber ich werde mit einem Wunderheiler zu Mittag essen. Der Erzbischof von New York hat gerade angerufen und mich gefragt, ob ich für einen schnellen Lunch vorbeikommen möchte.«
Bingham brach unwillkürlich in Lachen aus. »Das muss ich Ihnen lassen, Sie sind ganz schön schlagfertig. Wie auch immer, fahren Sie vorsichtig. Um ehrlich zu sein, ich wünschte, Sie würden nicht mit diesem Fahrrad fahren. Ich habe jedes Mal Angst, dass Sie eines Tages mit den Füßen voran hier hereingetragen werden.« Bingham kicherte noch immer, als er sich umdrehte und wieder in den Tiefen des OCME verschwand.
Jack radelte auf der Madison Avenue Richtung Uptown, und die frische Luft belebte ihn. Nach fünfzehn Minuten erreichte er die Ecke der 51. Straße.
Die Residenz des Erzbischofs unterschied sich dramatisch von den umliegenden modernen Wolkenkratzern. Es war ein bescheidenes, dreistöckiges und eher streng wirkendes schiefergedecktes Haus aus
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