Obduktion
größere Anziehungskraft auf ihn als historische Objekte. James hingegen war überwältigt. Allein über den mutmaßlichen Inhalt zu sprechen, ließ ihn noch flehentlicher eine Lösung herbeisehnen.
»Okay«, sagte Jack schließlich. Er hörte auf, James und seine feuchten Augen anzustarren, und richtete den Blick wieder hinunter auf den Deckel des Ossuariums. Er erwartete, dass James weiterreden würde, aber der Mann war zu aufgewühlt, um sprechen zu können.
»Ich verstehe hier wohl etwas nicht ganz. Wenn es so viele Ossuarien und so viele Fälscher gibt — was ja offenbar der Fall ist –, wo ist dann das Problem?«
James hatte die Lippen aufeinandergepresst, und eine einzelne Träne rann an seiner rechten Wange hinab. Ohne ein weiteres Wort schloss er kurz die Augen, erhob die Hände und winkte mit nach außen auf Jack gerichteten Handflächen sanft ab. Dabei schüttelte er den Kopf, so als wollte er sich dafür entschuldigen, nicht imstande zu sein, seine Gefühle auszudrücken. Einen Augenblick später bedeutete er Jack, dass er ihm folgen sollte.
Als sie oben durch die Küche zurückgingen, erkannte Mrs Steinbrenner mit nur einem einzigen Blick den emotionalen Zustand Seiner Eminenz. Obwohl sie nichts sagte, fixierte sie Jack, den sie verdächtigte, die Tränen ihres Chefs verursacht zu haben.
James setzte sich an das Kopfende des Esstisches und ließ Jack an seiner rechten Seite Platz nehmen. Zwischen ihnen stand die Gemüseplatte auf der Tafel. Als sie gerade an den Tisch heranrückten, erschien Mrs Steinbrenner mit einer großen Terrine in den Händen. Während die einschüchternde Frau die Suppe — eine exzellente Auberginenrahmsuppe — verteilte, wandte Jack den Blick nicht von seinem Teller ab.
Nachdem die Haushälterin das Servieren beendet und sich die Schwingtür zur Küche wieder hinter ihr geschlossen hatte, griff James zur Stoffserviette, um seine deutlich geröteten Augen trocken zu tupfen. »Ich bitte aufrichtig um Entschuldigung für meine Rührseligkeit«, sagte er.
»Schon in Ordnung«, entgegnete Jack rasch.
»Nein, ist es nicht«, antwortete James. »Nicht vor einem Gast, und schon gar nicht vor einem guten Freund, den ich um einen großen Gefallen bitten möchte.«
»Da möchte ich dir widersprechen«, wandte Jack ein. »Es zeigt mir, wie wichtig es dir ist, worum du mich bitten willst.«
»Das ist sehr freundlich von dir«, sagte James. »Und jetzt erlaube mir, um den Segen zu bitten.«
Nachdem James sein letztes Amen gesprochen hatte, schaute er zu Jack auf und sagte: »Bitte, fang an. Es tut mir leid, aber wir haben nicht viel Zeit. Wie ich vorhin schon erwähnt habe, muss ich um zwei Uhr im Gracie Mansion, dem Amtssitz des Bürgermeisters, sein.«
Jack nahm den schwersten silbernen Suppenlöffel auf,
den er jemals in Händen hatte, und probierte die Suppe. Sie schmeckte hervorragend.
»Sie ist eine gute Köchin. Nicht die umgänglichste Person, aber auf jeden Fall eine gute Köchin.«
Jack nickte. Er war froh, dass sich James nach seinem Gefühlsausbruch wieder in den Griff bekommen hatte.
»Wie ich schon sagte, bin ich davon überzeugt, dass sich herausstellen wird, dass es sich bei dem Ossuarium da unten auch nur um eine dieser unseligen Fälschungen handelt. Ich sage unselig, weil es, bevor der Schwindel aufgedeckt wird, noch viel Schaden anrichten kann. Es kann der Kirche schaden, den Gläubigen und auch mir persönlich. Das Problem ist, dass es nicht leicht sein wird, die Fälschung aufzudecken — vielleicht beruht der Beweis letzten Endes sogar größtenteils nur auf dem Glauben.«
Jack dachte im Stillen, dass in der Wissenschaft ein Beweis, der vom Glauben abhing, alles andere als ein Beweis war. Das war streng genommen sogar ein Widerspruch in sich.
»Unser größtes Problem ist die Tatsache, dass dieses Ossuarium von einem der angesehensten Archäologen der Welt entdeckt worden ist.«
»Du meinst Shawn?«
»Ja, ich meine Shawn. Nachdem wir die Kiste geöffnet und den Deckel des Ossuariums vor uns hatten, zeigte mir Shawn zwei Dinge: Zwischen all diesen Kratzern befinden sich ein Datum und ein Name. Das Datum in lateinischen Ziffern lautet 815 AUC, was nach dem gregorianischen Kalender 62 n. Chr. ist.«
»Was zum Teufel bedeutet AUC?«, fragte Jack. Dann errötete er und fügte schnell an: »Bitte verzeih meine Ausdrucksweise.«
»Ich erinnere mich daran, dass deine Ausdrucksweise auf dem College noch viel deftiger war. Aber du brauchst
dich nicht zu
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