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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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was davon haben?«
    »Lecker«, sagt er. Er freut sich. Es bleibt unerträglich, aber es ist nicht so schlimm wie sonst.
    Am Abend stehe ich lange unter der Dusche. Ich möchte naß sein, warm und naß. Solange ich dusche, ist das Abtrocknen etwas, woran ich nicht einmal denken
    will. Die Wände des neuen Zimmerchens sind fertig, das Sechziger-Jahre-Muster ist spurlos verschwunden. Morgen früh noch einmal das Kippfenster, die Tür und
    den Nachttisch. Morgen abend das Bett zusammensetzen, meine alte Matratze drauflegen und den Nachttisch neben das Bett stellen. Als ich sehe, daß meine
    Fingerspitzen faltig werden, drehe ich die Hähne zu. Ich trocknemich eilig ab und gehe schnell durch die Waschküche. Vor dem großen Spiegel über dem
    Kaminsims kämme ich mir die Haare. Die Glut des Ofens brennt auf meinen Beinen und meinem Unterleib. Ich drehe den Schalter von Stufe 4 auf Stufe 1 und gehe zur Schlafzimmertür.
    »Kgrra«, tönt es von draußen. Und danach noch viermal. Ich lasse die Schlafzimmertür offen; als ich ins Bett steige, spüre ich ein leichtes Zittern in dem Bein, das noch auf dem Boden steht. Ich lege mich hin und horche. Es wird ein gespanntes Horchen auf Stille, die Nebelkrähe läßt es bei fünf Rufen.
26
    Halb elf am Vormittag. Es regnet aus niedriger Wolkendecke. Wie üblich haben die Wetterfrösche gestern falsch gelegen. In der Küche brennt Licht. Die krumme Esche glänzt vor Nässe, die Nebelkrähe sitzt zusammengekauert auf ihrem Ast. Hin und wieder schüttelt sie ihr Gefieder ein bißchen auf, ohne die Flügel zu spreizen. Dann ähnelt sie einem Sperling, der ein Bad in einer Pfütze auf dem Hof nimmt. Einem Riesensperling. Ich warte. Die Zeitung liegt vor mir auf dem Tisch, aber ich kann nicht lesen. Ich sitze da und starre aus dem Fenster. Die Uhr summt, oben ist alles still, in meinem Becher sind noch ein paar Schlucke kalter Kaffee. Nicht nur oben ist es still, es ist überall still, der Regen klopft leise aufs Fensterbrett, die Straße ist naß und leer. Ich bin allein, habe niemanden zum Anschmiegen.

    Im Februar 1963 fuhr Vater, mit Henk und mir auf dem Rücksitz, mehrere Runden über die Gouwzee. »So was erleben wir kein zweites Mal«, meinte er undschmunzelte in sich hinein. Henk und ich waren weit auseinandergerückt, wir klebten an den Fenstern. Mutter war in Monnickendam geblieben, sie hatte sich nicht getraut. Als wir in den Hafen zurückkehrten, stand sie noch an genau derselben Stelle; an ihren Wimpern hatten sich winzige Eiszapfen gebildet. Bei der dritten oder vierten Runde war Vater an der Spitze des Damms eine Rechtsstatt einer Linkskurve gefahren. Nach ungefähr fünfzig Metern hatte er angehalten. Der kilometerlange Damm, der von Marken Richtung Volendam führt, endet ja ein Stück vor Volendam, als wäre er kurz vor der Fertigstellung von den Dammbauern vergessen worden, so daß Dorf und Insel auf ewig getrennt bleiben müssen. Vater beugte sich übers Lenkrad und starrte auf die Spitze des Damms, das Tor zum IJsselmeer. Er seufzte. Die Sonne schien; es kam einem so vor, als hätte schon den ganzen langen Winter über die Sonne geschienen. Schnee schob sich übers Eis wie Sand über einen nassen Strand. Henk und ich wußten, was Vater vorhatte. Wir brauchten uns nicht mit Blicken zu verständigen. Wir lösten uns von unseren Fenstern und rückten zusammen. Wir waren fünfzehn Jahre alt. Im Rückspiegel sahen wir einen anderen Wagen vorbeifahren, zu hören war er nicht. Vater seufzte noch einmal. Der Motor hatte ausgesetzt, es war still. »Das Eis ist bestimmt achtzig Zentimeter dick«, hatte im Hafen jemand zu Vater gesagt. Das war unvorstellbar dick. Vater hatte diese Dicke grob mit den Händen angedeutet, nur für sich selbst, und er hatte es gewagt. Durch achtzig Zentimeter Eis brach nicht mal ein Lastwagen. Es war nicht einfach nur still, es war grauenerregend still. Vater wußte nicht, wie dick das Eis jenseits des Damms war. Während er vor sich hin seufzte, rutschten wir hinten noch näher zusammen, bis wir wie siamesische Zwillinge vonden kleinen Zehen und Fersen bis zu den Schultern eins waren. Sollte Vater das große Abenteuer wagen, den Motor anlassen und der weiten, reifenspurenfreien Schneefläche entgegenfahren – wir würden alles wie ein Mann über uns ergehen lassen, ohne Angst, schweigend. Vater ließ den Motor an, was erst beim dritten oder vierten Versuch gelang. Ich wußte nichts mehr von eigener Haut, eigenen Muskeln, eigenen Knochen. Er

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