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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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hätte ruhig vorwärtsfahren können. Aber er fuhr rückwärts, sehr langsam, als würde er sich Zeit für eine Entscheidung nehmen. Henk und ich sahen die vier Schneehügelchen, die sich an den Reifen gebildet hatten, allmählich kleiner werden. Dann fuhr Vater in rasendem Tempo noch eine vierte oder fünfte Runde, bei der das Auto ab und zu aus der Kurve flog und wir kurz, ganz kurz nur, aus unserem siamesischen Zustand herausgerissen wurden. Erst als wir sahen, daß Mutter uns sah, kurz bevor Vater den Wagen auf den Holzsteg im Hafen lenkte, lösten wir uns voneinander, wurden wir wieder Henk und Helmer. Mutter brachte kein Wort heraus, ihr Unterkiefer verweigerte jede Bewegung, ihre Lippen waren zwei Streifen erstarrtes Fleisch.

    Bevor ich losfahre, erledige ich Dinge, die ich auch später erledigen könnte. Ich lasse die kranke Färse, die jetzt nicht mehr krank ist, wieder zu den anderen. Im Hühnerhaus nehme ich den Deckel vom Futterbehälter und schütte einen Sack Hühnerfutter aus. Die Esel bekommen ein paar Handvoll Heu; heute morgen hatte ich ihnen schon eine zerschnittene Futterrübe gegeben. Es bleibt düster, regnet aber nicht mehr. Als ich an Zunderdorp vorbei bin, liegt die Stadt wie eine Ebene voll grauer Quader vor mir.
27
    Vor der Frittenbude. Die Stelle kennen Riet und ich ja nun beide. Aber als ich ankomme, sehe ich, daß die Frittenbude verschwunden ist, und der Platz vor der verschwundenen Frittenbude ist schon besetzt. Ich parke den Opel Kadett hinter dem anderen Wagen, einem teuren, glänzenden, in dem zwei Männer sitzen.
    Bei unserem Telefongespräch hatte Riet sehr nüchtern geklungen, mein Ja schien sie gar nicht zu überraschen. Henk wußte inzwischen Bescheid und hatte auch ja gesagt. Nein, sie komme nicht mit, »darauf würde er sicher keinen Wert legen, eine Mutter, die ihn an seinem Reiseziel abliefert«. Auf meine Frage, woran ich ihn erkennen könnte, hatte sie geantwortet, ich solle auf seine Ohren achten, und sie werde ihm mich beschreiben. Kurz bevor wir auflegten, hatte sie noch erwähnt, wie Henk sein Einverständnis ausgedrückt hatte: Der genaue Wortlaut war »was spielt das alles schon für ’ne Rolle«.
    Ich steige aus. Weiter vorne kommt jetzt die Fußgängerfähre an, und das Boot bringt die Erinnerung an den Namen wieder, den diese Fähren Ende der Sechziger hatten, die Adler, wegen des Adelaarsweg, bei dem die Anlegestelle früher lag. Die beiden Männer in dem teuren Wagen rauchen. Sie tragen Anzüge. Ein Wagen und Männer, wie man sie nur in der Stadt sieht. Es fängt wieder an zu regnen, und ich frage mich, welches Benehmen wohl zu »was spielt das alles schon für ’ne Rolle« gehört.

    »Meine Mutter hatte mir gesagt, daß Sie diesen Pullover anhaben würden.«
    Der Junge mit den kurzen Haaren und den großenOhren hat mir die Hand gegeben. Er hat mich gefunden, ich hatte mich auf einen anderen Jungen konzentriert, der schräg hinter ihm von der Fähre kam. Ich habe meinen guten Pullover an. Den blauen mit schwarzen Streifen, den ich auch bei Riets Besuch, zu Silvester und bei der Beerdigung des alten Milchfahrers anhatte. Der andere Junge, der schräg hinter ihm ging, ähnelte Riet. Er hatte die gleiche Haarfarbe und blickte sich scheu um. Ich war mir ganz sicher, daß dieser Junge Henk sein müßte; so sicher, daß ich einen Schritt zur Seite machte, um an jemand anderem vorbeisehen zu können, der nah vor mir stehenblieb und deshalb im Weg war.
    »Herr van Wonderen?« fragte dieser andere.
    »Ja?« sagte ich, ohne ihn anzusehen.
    »Hier bin ich.« Er streckte mir die Hand entgegen, und ich ergriff diese Hand. »Meine Mutter hatte mir gesagt, daß Sie diesen Pullover anhaben würden.«

    »Steig ein«, sage ich.
    »Wo soll ich . . .«
    »Leg ihn einfach auf den Rücksitz.«
    Während er seinen Rucksack abnimmt, sehe ich dem Jungen nach, der so große Ähnlichkeit mit Riet hat. Er hat sich auf den Gepäckträger eines Fahrrads geschwungen und klammert sich an der Taille eines Mädchens fest. Jetzt schmiegt er sogar seinen Kopf an ihren Rücken.
    »Steig ein«, sage ich noch einmal.
    Wir öffnen gleichzeitig die Türen, aber noch bevor er richtig sitzt, habe ich den Motor angelassen. Kurz darauf überhole ich die Radfahrerin. Der Junge spricht mit ihrem Rücken und schaut mich einen winzigen Moment an. So, wie man sich im Vorbeigehen anschaut, kurz, gleichgültig, während man mit den Gedankenwoanders ist. Und immer noch denke ich: Henk, warum bist du nicht zu

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