Oben ohne
Auf der nächsten Folie geht es um die Zahlen zur Überlebenswahrscheinlichkeit von erkrankten Frauen nach fünf Jahren, aufgeteilt nach den beiden bekannten Mutationen BRCA1 und BRCA2. Mutationen im ersten Gen führen typischerweise zu schnell wachsenden Tumoren, die oft erst spät erkannt werden. Ohne Früherkennung erscheinen die Überlebenschancen daher schlechter als für an Brustkrebs erkrankte Frauen aus der Allgemeinbevölkerung.
Wieder alles hinlänglich aus Evelyns Familie bekannt. Evelyn kapiert in dem Moment, dass es sich wahrscheinlich um BRCA1 handelt, wie sie mir später am Abend erzählen wird. Ich bin hauptsächlich beeindruckt von der Übereinstimmung zwischen Wissenschaft und Leben, die hier geboten wird.
Schließlich ist Kaffeepause angesagt. Ich hole mir den gruseligen Filterkaffee (lauwarm und bitter), der zu solchen Gelegenheiten obligatorisch ist, und wir stellen uns an einen der Stehtische, die im Foyer des Zweckbaus verteilt wurden. Eine Frau im mittleren Alter gesellt sich ebenfalls zu uns, und wir kommen ins Gespräch. Sie ist Gynäkologin. Eine weitere Frau stellt ihre Kaffeetasse bei uns ab, und nachdem Evelyn unsere Geschichte erzählt hat, berichtet die zweite Frau, dass sie Patientin ist und gerade eine einseitige Mastektomie mit Wiederaufbau hinter sich. Dabei wurde ihr ein Muskel aus dem Rücken nach vorne gelegt, um dort Brustgewebe zu ersetzen. Die OP ist noch nicht lange her, sie hat noch Schmerzen und steht für meine Begriffe auch etwas gebückt oder verkrampft da. Tatsächlich leidet sie auch noch unter körperlichen Einschränkungen und kann den Arm bisher noch nicht wieder komplett heben. Nicht schön. Bisher hatte sie nur eine Seite operieren lassen, weil dort ein Tumor aufgetreten war. Jetzt überlegt sie sich, ob sie sich prophylaktisch auch die andere Brust entfernen lassen sollte.
Evelyn berichtet davon, dass sie einen Gentest machen will, um sich dann gegebenenfalls auch für die prophylaktische Entfernung mit Wiederaufbau zu entscheiden. Dann erzählt die Frauenärztin, dass sie eine sehr junge Patientin hatte, die an Brustkrebs erkrankt und vor kurzem auch gestorben war – wahrscheinlich eben an der erblichen Variante. Aber da sie davon sehr wenig Ahnung hat, will sie die Gelegenheit nutzen und sich hier informieren. Das ist mir sehr sympathisch, ein Arzt, der fehlendes Wissen so ehrlich eingesteht und sich dann um Weiterbildung bemüht! Wir werden es noch mit Ärzten zu tun bekommen, die sich einige Scheiben von diesem Berufsethos hätten abschneiden können.
Eine durchdringende Glocke ruft uns zum zweiten Teil der Vorträge zurück in den Hörsaal. Jetzt verstehen wir fast alles, was besprochen wird. Einige richtig interessante Fakten kommen da auf den Tisch: Beispielsweise »ähnelt« der BRCA1-Tumor im Anfangsstadium einer gutartigen Wucherung, sodass immer wieder Ärzte bei der Mammographie zu Fehldiagnosen kommen. Die Mediziner raten den Frauen mit Geschwulst dann abzuwarten, obwohl doch quasi jeder Tag mit dem Tumor ein Tag zu viel ist. Bei gutartigen Tumoren kann das eine sinnvolle Strategie sein, aber nicht bei BRCA1 oder 2. Ein anderer Vortrag gibt einen Überblick über die prophylaktischen Operationen mit Rekonstruktion. Und es ist eine Vielzahl an Methoden und Namen, die da auf uns einprasselt. Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele unterschiedliche Möglichkeiten gibt, die Brust nach einer Mastektomie wieder aufzubauen. Besonders schockierend sind die Bilder von einer Frau, die sich gegen einen Wiederaufbau entschieden hat. Das Körperbild ist weder männlich noch weiblich. Einfach nichts. In einem weiteren Vortrag geht es um die Mammographie, die Diagnosemethode, die zwar auch immer wieder umstritten ist, aber trotzdem von den Ärzten und Krankenkassen propagiert wird. Und da kommt der Hammer: So nebenbei erfahren wir, dass dieses Verfahren für Frauen unter dreißig Jahren nicht sinnvoll ist, da das Brustgewebe in diesem Alter einfach noch zu dicht sei. Na super, Evelyns Frauenarzt in Freiburg untersucht sie seit Jahren mit dieser Methode – offenbar in völliger Unkenntnis der Grenzen dieses Verfahrens! Ich schaue hinüber zu Evelyn. Das sind ja entzückende Neuigkeiten.
Nach dem abschließenden Stehimbiss bin ich völlig platt. Wir müssen noch von Köln nach Bonn, wo wir bei Evelyns Schwester übernachten können. Es ist inzwischen stockdunkel und gießt in Strömen, während wir uns über irgendwelche unbekannten Autobahnen nach Bonn
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