Oben ohne
Stunde?«
»Ja, das klingt gut«, sage ich, denn ich muss das Rad noch versorgen.
»Treffen wir uns wieder hier?«
An der Rezeption erfahre ich, dass es tatsächlich einen Radkeller gibt. Ich hätte mir also gar keinen Kopf machen brauchen, wenn ich gleich gefragt hätte. Sina zeigt mir später das Haus und erklärt mir alles. Sie ist sehr nett und bemüht sich um mich. Die Zeit nach dem Treffen mit meiner Patin verbringe ich damit, mich auf meinem Zimmer so gut es geht häuslich einzurichten. Ich räume alle Klamotten in den Schrank, die große Tasche mit allem weiteren soll ja morgen von der Bahn angeliefert werden. Als ich damit fertig bin, ist es noch ziemlich früh am Abend, aber meine Erschöpfung hat nun eher wieder zugenommen. Und ich habe den Verdacht, dass es mich überfordert, so freundlich und fürsorglich empfangen zu werden. Als Kind ging mir alle Geborgenheit mit dem Tod meiner Mutter verloren, ab da war ich selbst in der Situation, meiner deutlich jüngeren Schwester so etwas wie Geborgenheit geben zu wollen und zu müssen. Seither kann ich solche Angebote auch nicht mehr so gut annehmen – aus Angst davor, dass das zu sehr wehtun könnte. Aber hier kann ich es nicht ablehnen, dass Menschen versuchen, mir Geborgenheit zu geben, und das haut mich völlig um.
So allein im Zimmer, überkommt mich plötzlich das heulende Elend. Ich fühle mich total leer und traurig. Ein Anruf bei Tino macht die Sache nur schlimmer. Völlig erschlagen schlafe ich früh ein. Immerhin, ich schlafe! Das war in Freiburg ja alles andere als selbstverständlich.
SIE WISSEN DOCH, WAS SIE WOLLEN
Am nächsten Morgen gibt es nach dem Frühstück die ersten Gespräche mit den Ärzten. Warum bin ich hier? Tja, gute Frage. Mir geht es nicht gut. Ich erzähle also meine Geschichte. Das ist ja nicht das erste Mal, dass ich von der Krankheit und vom Tod meiner Mutter erzähle, der Zeit danach als Älteste von drei Kindern, der Verantwortung, der vielen Arbeit, den Ängsten vor einer möglichen erblichen Belastung. Aber zum ersten Mal ist mir dabei richtig elend zumute. So geweint wie während dieses Gespräches habe ich – glaube ich – noch nie. Das ist sehr anstrengend, aber ich lerne gleich eine erste Lektion: Es ist okay, hier zu sein, fertig mit der Welt zu sein, eine Auszeit zu brauchen. Während mir die Ärztin das klarmacht, merke ich, wie sehr ich bisher den Anspruch hatte und immer noch habe, anstandslos zu funktionieren.
Das Gespräch war ziemlich aufwühlend, und wie immer in solchen Situationen hilft es mir, spazieren zu gehen. Auf meinem Rundgang um die Klinik kann ich zum ersten Mal das volle Bergpanorama sehen. Das ist schon sehr eindrucksvoll. Die Berge lassen mich sogar für einige Zeit meine Traurigkeit vergessen. Sie strahlen Kraft und Ruhe aus. Schon früh gibt es Mittagessen, ich muss wieder zurück in die Klinik, und danach stehen weitere Programmpunkte auf meinem Therapieplan. Das Ding ist ganz schön voll und erinnert fatal an einen Stundenplan. Und er gilt nur für die erste Woche! Ich habe gehört, dass da noch so einiges dazu kommen soll. Ich habe schon beschlossen, mich dagegen zu wehren, dass mein Leben hier so verplant sein soll. Von einem Termin zum nächsten zu hetzen: Schon der Gedanke löst bei mir Stress aus. Und nach so bewegenden Gesprächen wie dem gerade eben kann ich nicht einfach nahtlos weitermachen.
In den nächsten Tagen zieht die Regenfront ab, und das Wetter wird richtig schön. Ich schwinge mich auf mein Rad, schaue mir den Königssee an, der idyllisch zwischen beeindruckenden Felswänden liegt. Ohne genaue Planung komme ich mit dem Mountainbike nicht sonderlich weit. Im Gegensatz zum heimischen Schwarzwald, wo man auf fast jedem Wanderweg auch mit dem Bike vorwärtskommt, muss ich hier die auf den Karten eingezeichneten Mountainbikestrecken suchen. Die Wanderpfade sind einfach zu alpin, um sie mit dem Rad zu bezwingen. Allein Touren zu suchen ist schon ziemlich ungewohnt.
Bevor das Radfahren mit der ganzen Orientierung zum Stress wird, setze ich mich auf eine blühende Bergwiese und lasse die Gedanken schweifen. Es ist schon ein komischer Film. Ich bin hier mitten im Grünen, weg von jeglichem Alltag, konfrontiert mit meiner eigenen Geschichte. Es ist eine Zeit zum Trauern, zum Abschiednehmen, die ich nie hatte. Das war nach dem Tod meiner Mutter einfach kein Thema bei uns. Mein Vater hat das wohl alles mit sich selbst ausgemacht – oder einfach verdrängt. Keine Ahnung,
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