Oben ohne
jedenfalls galt für uns Kinder das Motto: Immer so tun, als sei nichts passiert. Aber natürlich ist etwas passiert, etwas Unfassbares, das wir gar nicht kapieren konnten.
In der Gegenwart kommt da noch die Angst dazu, dass sich das alles so wiederholen könnte. Dass ich auch Brustkrebs bekommen könnte. Nein, nicht genauso, ich habe keine Kinder und werde zunächst auch keine bekommen. Das möchte ich in dieser Situation nicht verantworten. Als Erstes brauche ich Gewissheit, ob ich Mutationsträgerin bin oder nicht. Falls ich den Gendefekt trage, wäre eine Mastektomie möglich. Danach könnte ich Kinder bekommen. Ich könnte sie nicht stillen, klar. Aber das ist wohl das kleinste Problem. Stillende Mütter sind zwar immer überzeugt davon, dass das Stillen das einzig Richtige für ihr Kind ist, besonders im grünalternativen Freiburg. Tatsächlich gibt es Studien, die belegen, dass Stillen wichtig ist, um etwa Allergien vorzubeugen. Mal abgesehen von diesen eher technischen Details bleibt aber immer noch die Frage, ob ich das Risiko der Weitervererbung eingehen möchte oder nicht. Für meine Mutter war das noch keine Frage. Sie wusste nichts davon, hatte keinen Schimmer von einer erblichen Belastung, ich dagegen kann es nicht ignorieren.
Ich genieße die warme Sonne, und schließlich packe ich mein Rad, um wieder zurück in die Klink zu fahren. Langsam habe ich kapiert: Dort ist jetzt mein Lebensmittelpunkt.
Nach rund zwei Wochen hat sich der Klinikalltag eingestellt: Ich habe eine gute Balance gefunden zwischen Therapieanwendungen der verschiedensten Arten, freier Zeit zum Spazieren oder Radfahren und anregenden Gesprächen mit Mitpatienten. Die ersten vierzehn Tage sind richtig schnell vergangen. Das hätte ich vorher nicht geglaubt. Schade, das Wetter spielt in diesem Sommer nicht mit. Nach dem kurzen Zwischenhoch ist es richtig kühl, und immer wieder regnet es. Dann verschwinden die Berge in den grauen Wolken, und selbst das saftige Grün der Wiesen wirkt matt. Das Erstaunliche ist, dass das Wetter mich nicht herunterzieht. Schließlich bin ich eine ausgesprochene Sonnen- und Wärmeanbeterin. An tristen Tagen in Freiburg nahm das Gefühl der Leere oft überhand. Das Gefühl gibt es hier in Schönau nicht mehr. Wenn, dann bin ich hier traurig. Aber dann weiß ich wenigstens auch, warum. Es ist nicht mehr so unspezifisch, wie noch in den vergangenen Monaten. Ich habe bereits einiges kapiert, und es fühlt sich gut an zu wissen, was in mir abgeht. Viel zu lange Jahre habe ich das alles ignoriert. Ich habe außerdem eingesehen, dass es sicher nicht anders gegangen wäre. Ich musste als Jugendliche verdrängen, um weiterleben zu können.
Jetzt dagegen ist der Raum da, etwas zu ändern. Ich verbringe viel Zeit mit mir selbst – und trotzdem fühle ich mich inzwischen nicht mehr einsam. Es tut sehr gut, dass dieses endlose Einsamkeitsgefühl endlich verschwunden ist!
An einem Mittag werde ich aus meinem gemütlichen Therapietrott herausgerissen. Ein Brief liegt in meinem Postfach im Erdgeschoss der Klinik. Ich drehe den Umschlag in meinen Händen, er ist vom Oberschulamt, meinem Dienstherren. Was wollen die denn? Beim Hochgehen lese ich und stolpere vor Erstaunen fast über meine eigenen Füße: Meinem Versetzungsantrag wurde doch stattgegeben! Ich komme an eine Schule, die deutlich näher an Freiburg liegt. Moment, der Antrag war doch längst abgelehnt worden, das ist sicher schon fast drei Monate her, seit ich den negativen Bescheid bekam. Natürlich hatte ich damit gerechnet, außerdem ging es mir damals zusehends schlechter, deshalb habe ich mich nicht mehr groß um diese Absage gekümmert. Ich werfe mich in meinem Zimmer auf das Bett und lese nochmal ganz genau. Wenn ich der Versetzung zustimme, steht da in dem Brief, muss ich das Formular unterschrieben zurückschicken. Was ist passiert? Ich denke darüber nach, und schnell wird mir klar, dass sich mein Rektor für mich ins Zeug gelegt haben muss. Anders kann es nicht sein. Aber das wäre wirklich der Hammer – ich falle total kurzfristig in der Schule aus, er hat nur Ärger mit mir, und trotzdem hilft er mir bei der Versetzung. Kann eigentlich nicht sein.
»Weißt du, was da los ist?«
Ich habe Tino an der Strippe.
»Nee, keine Ahnung … aber das ist doch klasse!«
Klar, es soll mir natürlich recht sein! Ich nehme mir vor, demnächst bei meinem Chef anzurufen und nachzufragen, wie das denn alles zustande gekommen ist. In jedem Fall ist es
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