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Oben ohne

Oben ohne

Titel: Oben ohne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Heeg
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überwältigend. Mannomann, tausend Gedanken jagen mir durch den Kopf: Da muss ich in der neuen Schule ja gleich mal sagen, dass ich keine Ahnung habe, wann ich eigentlich wieder einsatzfähig sein werde. Hier bin ich zwar nach den Sommerferien draußen, aber was ist mit dem Gentestergebnis? Sollte ich positiv sein und operiert werden müssen, dann mache ich das doch am besten gleich, oder? Aber will ich überhaupt operiert werden? Da waren sie wieder, die immer gleichen Fragen. Ich schwanke zwischen Bestimmtheit und Zweifel. Erst mal die Gedanken sortieren, denke ich mir. Das geht am besten auf dem Rad. Auf dem Weg nach draußen treffe ich einen Mitpatienten, einen Mann im mittleren Alter, der als Taxifahrer arbeitet. Mit ihm war ich bei diversen Gruppentherapiesitzungen aneinandergeraten. Er hat eine ausgeprägte Aversion gegen Beamte, die ich ein paar Mal volle Breitseite abbekommen habe. Zu meiner Verwunderung spricht er mich an: »Hey, Evelyn, was ist los: Du siehst ja total glücklich aus.«
    »Ja, das bin ich eigentlich auch. Also … bis auf die Tatsache, dass ich es noch gar nicht fassen kann.«
    Ich berichte ihm von meiner erst abgelehnten und jetzt doch bewilligten Versetzung. Er ist sichtlich beeindruckt, wie kompliziert manches auch als Beamtin sein kann. Und: Er freut sich richtig mit mir. Das ist wirklich schön, und wir sind beide erleichtert, scheint es mir. Durch diesen kurzen Austausch und seine nette, mitfühlende Reaktion konnten wir diese unsinnige Mauer zwischen uns beseitigen. Sie hatte mich nie groß belastet, aber ohne ist es doch schöner. Völlig aufgewühlt fahre ich das idyllische Flusstal in Richtung Ramsau entlang. Als ich auf einer Wiese einen alten Baumstumpf sehe, mache ich dort erst mal eine Pause und versuche, meine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken.
    Die Versetzung ist einige Tage später auch in meinem nächsten Gespräch mit der Chefärtzin Thema. Jede Woche bin ich bei ihr zu einer kurzen Visite. Und von diesen wenigen Minuten profitiere ich fast am meisten. Alles, was sie sagt, hat Hand und Fuß – auch wenn es gelegentlich schmerzhafte Dinge sind, mit denen sie mich konfrontiert. Aber deshalb bin ich ja hier – um nicht mehr vor irgendetwas wegzulaufen oder etwas zu verdrängen. Beim Thema Versetzung geht es jetzt darum, dass ich immer noch nicht weiß, was ich denen an der neuen Schule über meine mögliche Rückkehr sagen soll. Denn das hängt natürlich vom Ergebnis des Gentests ab. Ich fange mal wieder an mit meinen Wenns und Abers, während mich die Ärztin ruhig anschaut. Als ich fertig bin, sagt sie: »Frau Heeg, Sie wissen doch eigentlich genau, was Sie wollen. Warum lassen Sie sich immer verunsichern?«
    Wow, da hat sie mal wieder so einen Hammer herausgehauen.
    Ich muss erst mal schlucken. Und dann eingestehen, dass sie völlig recht hat. Bei einem positiven Befund will ich eine Mastektomie mit Wiederaufbau, wie auch immer die aussehen wird. Eine erschreckende, aber auch erleichternde Klarheit macht sich in meinem Kopf breit.
    Wir reden noch darüber, was mich eigentlich immer wieder zweifeln lässt. Oder genauer gesagt: zumindest so tun lässt, als ob es noch Zweifel gäbe. Ich erzähle ihr von dem Sozialpädagogen, der in der Klinik die Gestaltungstherapie anleitet. Der hatte mir vor ein paar Tagen doch tatsächlich anhand eines von mir gemalten Bildes eine »Krebspersönlichkeit« angedichtet. Ich müsste nur die wuchernden Teile meiner Persönlichkeit ändern, und dann hätte ich auch kein Krebsrisiko mehr. Das hat mich damals gar nicht so sehr getroffen, aber als ich es Tino erzählte, regte der sich ziemlich auf. Und da merkte ich auch, was für eine ungeheuere Unterstellung in dieser Aussage versteckt war: Im Grunde wäre ich ja selbst daran schuld, wenn bei mir der Krebs ausbrechen würde. Das ist natürlich eine eklatante Grenzüberschreitung, gerade von einem Betreuer in einer solchen Situation. Und auch fachlich völliger Mumpitz. Eine »Krebspersönlichkeit« gibt es nicht. Punkt.
    Das sieht auch die Chefärztin so, und sie ist gar nicht erfreut, so etwas von ihren Kollegen zu hören. Ich erzähle ihr aber auch, wie die Menschen schockiert und ablehnend auf meine Gedanken reagieren, mir die Brust vorsorglich entfernen zu lassen. Der übliche Satz eben: »Willst du das wirklich tun?« Ja, ich will es tun! Da hat die Chefärztin recht. Sie macht mir klar, dass ich nicht darauf angewiesen bin, dass mich jeder versteht. Solange ich die Entscheidung

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